Rezension: Whatsapp 29. Mai 2021 - Kameras und Augen (Teil 6 - Linsenevolution)Heute schließen wir die Artikelserie nach über 6 Monaten (inklusive kreativer Pause) ab. Immerhin sollte der Text inklusive der Grafiken innerhalb einer Woche fertiggestellt sein. Ging ich doch davon aus, dass so ein Text zu einem Whatsapppost deutlich schneller zu erstellen sei, als zu einem umfangreichen Artikel. Über das Auge lässt sich aber auch noch viel Spannendes erzählen.
(Abbildung links: Modell der schrittweisen Evolution eines Linsenauges. Die Zahlen rechts geben die Anzahl evolutionärer Einzelschritte zwischen zwei Abbildungsstufen an.)
Die Linse ist eine evolutionäre Innovation als ein diskretes neues Element, das dem Bauplan hinzugefügt wird. Jedoch traten die Bestandteile der Linse nicht erst mit ihrem Erscheinen im Organismus auf. Die wichtigsten Proteine, aus denen die Wirbeltierlinse besteht, die drei Kristalline vom Typ alpha, beta und gamma, mussten nicht evolutionär speziell für das Auge entwickelt werden, was die Erklärung einer schrittweisen Evolution des Auges plausibler macht. Linsenproteine sind opportunistische Proteine. Sie stammen von existierenden Proteinen mit anderen Funktionen in anderen Teilen des Organismus ab (#1), so etwa in Gehirn, Leber, Lunge, Herz. Im Verlauf der Evolution spezialisierten sie sich in der Linse und nahmen neue Aufgaben an (Exaptation). Entscheidender als ihre molekulare Veränderung ist jedoch die bei den Wirbeltieren entstandene neuartige Anordnung der Kristalline in der Linse (#2) in Form zwiebelartiger Verschalung, die begleitet ist vom Abbau des Zellkerns und der Organellen der Linsenfaserzellen, wodurch erst eine lebenslange Überdauerung des Linsenkerns gewährleistet wird.
Weshalb manche Kristalline Enzymcharakter haben, ist heute nicht geklärt (#3). Die Schwierigkeit, das Entstehen der Linse als von der Netzhaut unabhängige Augenkomponente evolutionär erklären zu können, kann als überwunden gelten, seit das Vorhandensein von Kristallinen in Organismen ohne Augen sowie der Induktionsmechanismus für die Induktion der Linsenplakode bekannt sind, die die schrittweise embryonale Entwicklung des Wirbeltierauges steuern. War eine erste, primitive, plane Linse vorhanden, war ihre evolutionäre Weiterentwicklung ein wiederholter Prozess von Variation und natürlicher Selektion, in dessen Verlauf sich eine verbesserte ovale, transparente und eigenelastische und damit akkommodationsfähige Linse nach und nach entwickeln konnte (siehe links).
Ein Modell für die Evolution eines Linsenauges von Nilsson und Pelger (1994) berechnete 1829 notwendige Einzelschritte und dafür 364.000 erforderliche Generationen bzw. Jahre beim Fisch. Das Modell beginnt mit einem linsenlosen Flachauge und enthält in der Endausbaustufe ein Wirbeltier-Linsenauge ohne additive Zusätze wie Iris oder Muskeln (siehe links). Es wurde von einer phänotypischen Veränderungsrate von 1 % je Generation ausgegangen. Diese Veränderungsrate entspricht so kleinen Schritten, dass sie durch genetischen Wandel vorstellbar ist.
Weitere realistische Annahmen über Selektion, Erblichkeit und Variationskoeffizient, dem Maß wie viel Variation in einer Population vorhanden ist, wurden gemacht. So wurde etwa bei der Intensität der Selektion zugrunde gelegt, dass auf 101 Tiere, die mit einer Verbesserung überlebten, 100 Tiere kamen, die auch ohne sie überlebten.
Das Modell nennt sich pessimistisch, da die Annahmen so getroffen wurden, dass die simulierte Evolution des Auges eher zu langsam als zu schnell abläuft. Bis dahin ging man immer wieder von der Annahme aus, dass die Evolution eines so komplizierten, aus vielen Teilen bestehenden Organs wie das Auge unglaublich lange dauern muss. Tatsächlich konnte nach den Ergebnissen des Modells das Linsenauge in weniger als einer halben Million Jahre und damit in einem erdgeschichtlich sehr kurzen Zeitraum evolvieren (#4).
Richard Dawkins kommentiert das: "Er [der Zeitraum] ist so kurz, dass er in den Fossilgeschichten der alten Zeit, um die es hier geht, als ein einziger Augenblick erscheinen würde. Der Einwand, für die Evolution des Auges sei nicht genug Zeit gewesen, ist also nicht nur einfach falsch, sondern er ist zutiefst, entschieden und schmählich falsch." (#5)
Die Linse kann neben der Netzhaut als einer der beiden großen Komplexe des Wirbeltierauges gesehen werden. Während die Linse zusammen mit Hornhaut und Iris das einfallende Licht bündelt und auf die dahinterliegende Netzhaut fokussiert, sorgt die Netzhaut für die Umwandlung der Lichtsignale in elektrische Signale und für deren Weiterleitung zum Gehirn, wo die Endverarbeitung der Informationen erfolgt.
Heute ist anerkannt, dass selbst eine primitive Linse, die noch keine Unterstützung durch eine Hornhaut besitzt und nicht akkommodieren kann, evolutionär eine bessere Sehfähigkeit besitzt als ein Auge ohne Linse. Es verfügt bereits über eine gewisse Bildauflösungsfähigkeit. Augen ohne Linse, wie sie die Garnele Rimicaris exoculata auf ihrem Rücken besitzt (Bild rechts), ein Tier, das in der Nähe von Schloten in tiefen Meeresgewässern lebt, ist dagegen evolutionär vorteilhafter als gar kein Auge (#2, #3). Die Lichtempfindlichkeit ist hier maximal, die Bildauflösungsfähigkeit minimal.
Lichtabgewandte und lichtzugewandte Lage der FotorezeptorenDas Wirbeltier- und das Kopffüßerauge sind ähnliche Konstruktionen. Beide sind Kameraaugen mit einer Linse vorn und einer Netzhaut hinten. Dennoch sind sie konvergente Evolutionsprodukte.
Die Unterschiede werden in der embryonalen Entwicklung deutlich: Das Wirbeltierauge wird als Teil des Gehirns angesehen, da seine erste Anlage aus diesem hervorgeht (Augenentwicklung (Wirbeltiere)). Dies ist zum Beispiel beim Kraken (Oktopus), der nicht zu den Wirbeltieren, sondern zu den Kopffüßern (Cephalopoden) zählt, nicht der Fall, bei dem das Auge evolutionär durch Einstülpung der äußeren Oberfläche entstanden ist. Der Entwicklungsvorgang beim Wirbeltier mit einer invertierten Retina (siehe rechts) hat mehrere Konsequenzen:
Erstens generiert der inwendig gebündelte, zum Gehirn führende Sehnerv einen blinden Fleck, da sich an der Stelle, wo er aus dem Auge austritt, keine lichtempfindlichen Sinneszellen befinden.
Zweitens liegen die Nervenfasern, Nervenzellen und Blutgefäße auf der zum Licht hin gerichteten Seite der Netzhaut, sodass das Licht diese durchqueren muss, bevor es die Fotorezeptoren erreicht. Drittens sind die langen Fotorezeptorfortsätze der Zapfen und Stäbchen nicht zur Lichtseite, sondern nach außen zum Pigmentepithel hin gerichtet (#6, #7). Das Licht muss alle aufliegenden Schichten einschließlich der Fotorezeptoren durchqueren, bevor es auf deren lichtsensitive Außensegmente trifft. Beim Oktopus gestaltet sich der Weg direkter; bei ihm trifft das Licht unmittelbar auf die Rezeptoren (siehe rechts).
Diese Unterschiede waren immer wieder Gegenstand heftig geführter Diskussionen um die Perfektion des Auges und speziell darum, ob das Wirbeltierauge wegen der Inversionslage der Fotorezeptorzellen evolutionär unglücklich gebaut ist (#8). Da die Netzhautzellen sehr energiezehrend sind, müssen sie ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Die ineffiziente Anordnung der Fotorezeptorzellen auf der inversen, lichtabgewandten Seite ist demnach unter dem Gesichtspunkt der Energieversorgung notwendig (#3). Es ist daher unangebracht, davon zu sprechen, das Wirbeltierauge sei unter dem hier betrachteten Aspekt "keineswegs perfekt", "ungeschickt aufgebaut", oder habe "bestimmte Mängel", wie Trevor Lamb sich äußert (#9).
In der Evolution gibt es laut Julian Huxley und Ernst Mayr keine Perfektion (#10). Jedes Ergebnis kann immer nur im Zusammenhang mit den Umweltbedingungen der jeweiligen Art analysiert werden. Das Wirbeltierauge stand phylogenetisch demnach völlig anderen Umweltherausforderungen gegenüber als das Tintenfischauge. Ein Leistungs- oder Konstruktionsvergleich ist nicht möglich.
#1 - R. W. Scotland: Deep homology: A view from systematics. BioEssays 32 (5): 438–449, (2010) doi:10.1002/bies.200900175. PMID 20394064
#2 - Fernald, D. Russell: The Evolution of Eyes: Where Do Lenses Come From? Karger Gazette 64: "The Eye in Focus" (2001)
#3 - Nick Lane: Leben. Verblüffende Erfindungen der Evolution. Primus Verlag 2013
#4 - Dan-Erik Nilsson und Susanne A. Pelger: A pessimistic estimate of the time required for for an eye to evolve. Proceedings of the Royal Society of London. B525, 53-58.1994
#5 - Richard Dawkins: Gipfel des Unwahrscheinlichen. Wunder der Evolution. Rowohlt 1999. Orig.: Climbing Mount Impropable. Viking Penguin Group London 1996
#6 - W. Westheide, R. M. Rieger, G. Rieger, G. Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Springer Verlag 2. Auflage 2010, Seite 100. ISBN 978-3-8274-2039-8
#7 - Johannes W. Rohen, Elke Lütjen-Drecoll: Funktionelle Histologie. Schattauer, F.K. Verlag 4. Auflage März 2000, S. 476. ISBN 978-3-7945-2044-2
#8 - A. Reichenbach, A. Bringmann (2010). Müller cells in the healthy and diseased retina. New York: Springer. pp 15–20
#9 - Trevor D. Lambs. Das Auge − Organ mit Vergangenheit in: Evolution. Wie sie die Geschichte des Lebens geformt hat. Spektrum der Wissenschaft Spezial 1/2014
#10 - Huxley, Julian (1942/2010): Evolution - The Modern Synthesis. The Definitive Edition, with a Foreword by Massimo Pigliucci and Gerd B. Müller. MIT Press, Cambridge