1 % mehr Sauerstoff und wir verbrennen alleMit den Alltagsmythen ist das so eine Sache: Sie klingen lustig und interessant und eignen sich hervorragend für einen gepflegten Small Talk. Wirklich überprüft hat diesen Mythos aber wohl kaum einer der Gesprächspartner.
Neulich hörte ich wieder so einen Unfug. Wissenschaftler hätten herausgefunden, dass alles Leben in Flammen aufgehen würde, wenn nur 1 % mehr Sauerstoff in der Atmosphäre wären und wir würden ersticken, wenn es 1 % weniger gäbe.
Ich hatte mich schon einmal im
Evolution oder Schöpfung Thread damit beschäftigt. Damals fragte der muslimische Intellektuelle:
"Sauerstoffgehalt in der Luft ist 21 %. Und die Wissenschaftler sagen, wenn das 20 % wären, wird die Erde den Inhalt von diesem Sauerstoff absaugen und wir werden aussterben. Wenn das 22 % wären, wird nur Verbrennung auf diese Erde geben. Wer lässt das nur 21 %?"Aber der Sauerstoffgehalt in der Luft war nicht immer so, wie stratigrafische Messungen bestätigen (#1, #2, #3, #4, #5, #6, #7, #8, #9, #10, #11 und #12).
Quartär (vor 2,588 Millionen Jahren bis heute)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 20,9 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 260 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 11 Grad Celsius
Neogen (vor 23,03 - 2,588 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 21,5 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 280 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 14 Grad Celsius
Paläogen (vor 65,5 - 23,03 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 26 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 500 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 18 Grad Celsius
Kreide (vor 145 - 66 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 30 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 1700 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 23 Grad Celsius
Jura (vor 201,3 - 145 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 26 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 1950 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 16,5 Grad Celsius
Trias (vor 252,2 - 201,3 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 16 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 1750 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 17 Grad Celsius
Perm (vor 298,9 - 252,2 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 23 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 900 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 16 Grad Celsius
Karbon (vor 358,9 - 298,9 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 32,5 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 800 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 14 Grad Celsius
Devon (vor 419,2 - 358,9 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 15 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 2200 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 20 Grad Celsius
Silur (vor 443,4 - 419,2 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 14 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 4500 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 17 Grad Celsius
Ordovizium (vor 485,4 - 443,4 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 13,5 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 4200 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 16 Grad Celsius
Kambrium (vor 541 - 485,4 Millionen Jahren)
-> Atmosphärischer freier Sauerstoffanteil: ca. 12,5 Vol.-%
-> Atmosphärischer Kohlenstoffdioxidanteil: 4500 ppm
-> Bodentemperatur: ca. 21 Grad Celsius
Alle Werte sind über die Periodendauer gemittelt. Innerhalb der Periodendauer, also der Millionen Jahre, die ein Zeitalter dauerte, gab es nachweislich auch Schwankungen.
ppm steht für "parts per million", also Teile pro Million, auch als Millionstel bezeichnet. Sie wird in Wissenschaft und Technik angewandt, wo Prozent (Hundertstel) und Promille (Tausendstel) nicht sinnvoll angewendet sind.
Die Uratmosphäre der Erde enthielt freien Sauerstoff (also O2) allenfalls in sehr geringen Konzentrationen, da aller Sauerstoff in Oxidation von organischen Stoffen, Schwefeldioxid und vor allem Eisen (als gelöstes zweiwertiges Eisen-Ion Fe2+ (#13)) vollständig verbraucht wurde. Vor etwa 3,2 bis 2,8 Milliarden Jahren entwickelten Mikroorganismen - nach gegenwärtigen Kenntnissen Vorläufer der heutigen Cyanobakterien - aus einer einfacheren Photosyntheseform eine neue entwickelten, bei der im Gegensatz zur älteren Form O2 als Abfallprodukt freigesetzt wurde, weshalb diese als oxygene Photosynthese bezeichnet wird (Oxygen = Sauerstoff). Dadurch wurde O2 in beträchtlichen Mengen in den Ozeanen gebildet. Eine lange Zeit wurde auch dieser Sauerstoff durch Oxidation gebunden, auch weil durch Verwitterung und Vulkanismus oxidierbare Stoffe nachgeliefert wurden. Nach dieser letzten Frist aber konnte der Neuertrag dieser Stoffe den immer wieder neu gebildeten Sauerstoff nicht mehr vollständig binden, sodass der überschüssige freie Sauerstoff begann sich im Meerwasser und anschließend in der Atmosphäre anzureichern. Innerhalb von etwa 50 Millionen Jahren führte der stetig steigende Sauerstoffgehalt zur Sauerstoffkatastrophe, dem ersten großen nachweisbaren Massensterben auf dem Planeten Erde.
Es hat in der Erdgeschichte Zeiten mit wesentlich stärkeren Abweichungen vom heutigen Sauerstoffgehalt gegeben und weder sind Atmosphäre und Meere verbrannt, noch wurde aller Sauerstoff ins All geblasen oder irgendwo im Erdreich gebunden.
Sehr wohl aber ist der Sauerstoffgehalt für Verbrennungsprozesse sehr wichtig. In der Luft müssen mindestens 15 % vorhanden sein, damit Holz, Papier, Kerzen und andere Materialien dauerhaft brennen (#14)
Ganz klar also dieses "Wissen" ist Mythos.
#1 - Gunnar Ries: Dicke Luft bei den Sauriern
#2 - Geologie-Forum @ Geoversum: Massensterben an der Perm-Trias Grenze: Durch Sauerstoffmangel erstickt?
#3 - Die Zusammensetzung der Atmosphäre im Phanerozoikum (diese ältere Quelle geht noch irrtümlich von einem nahe-rezenten Luftsauerstoffanteil bereits im Kambrium aus.)
#4 - Erdgeschichte: Fauna und Flora korreliert mit veränderten Umweltbedingungen
#5 - wissenschaft.de: Gigantismus, Fliegen und Antiaging: Sauerstoffreiche Luft löste vor 300 Millionen Jahren einen Innovationsschub aus
#6 - Rothman, Daniel H. (2001). "Atmospheric carbon dioxide levels for the last 500 million years". Proceedings of the National Academy of Sciences 99 (7): 4167-4171.
#7 - Royer, Dana L., Robert A. Berner, Isabel P. Montañez, Neil J. Tabor, and David J. Beerling (2004). "CO2 as a primary driver of Phanerozoic climate". GSA Today 14 (3): 4-10. doi:10.1130/1052-5173(2004)014<4:CAAPDO>2.0.CO;2
#8 - Hansen, J., Mki. Sato, G. Russell, and P. Kharecha, 2013: Climate sensitivity, sea level, and atmospheric carbon dioxide. Phil. Trans. R. Soc. A, 371, 20120294. doi:10.1098/rsta.2012.0294
#9 - Zachos JC, Dickens GR, Zeebe RE. 2008 An Early Cenozoic perspective on greenhouse warming and carbon-cycle dynamics. Nature 451, 279–283. doi:10.1038/nature06588
#10 - Lisiecki, L. E.; Raymo, M. E. (May 2005). Correction to "A Pliocene-Pleistocene stack of 57 globally distributed benthic d18O records". Paleoceanography: PA2007. doi:10.1029/2005PA001164
#11 - Berkeley Earth land-ocean dataset (2014). Retrieved on 21 March 2014.
#12 - IPCC Fifth Assessment Report WG1 Summary for Policy Makers (2013).
#13 - Die Oxidation von Fe2+ zu dreiwertigen Eisen-Ionen Fe3+ führte zur Ablagerung von Bändererz (Banded Iron Formation), wo Eisen hauptsächlich in Form von Oxiden, nämlich Hämatit Fe2O3 und Magnetit Fe3O4 vorliegt. In alten Kontinentschilden, die in der langen Zeit relativ wenig tektonisch verändert wurden, sind solche Bändererze bis heute erhalten, beispielsweise Hamersley Basin (Westaustralien), Transvaal Craton (Südafrika), Animikie Group (Minnesota, USA). Sie sind global die wichtigsten Eisenerze.
#14 - Wann es brennt - wissenschaft.de