Die Greekenniedergeschrieben von Hexagon
im 1. Jahr der Herrschaft Flavius Jovianus, Sohn des verblichenen Flavius Claudius Iulianus, der ein Enkel Kaiser Constantius’ I., ein Neffe Kaiser Konstantins des Großen und ein Vetter Kaiser Constantius’ II war und im Kampf gegen die Sassaniden fiel, Kaiser des Rhomäischen Imperiums
im Jahre 1116 nach der Gründung Roms
im Jahre 686 nach dem Tode Alexander des Großen
im Jahre 299 nach dem großen Brand von Tiber
im Jahre 39 nach der Thronbesteigung des Kaisers Konstantin des Großen
Die Abschrift im Jahr meiner Niederschaft in Athen
Ich bezeuge die korrekte Abschrift der Niederschrift aus den greekischen Archiven, wie sie da waren und mir gezeigt wurden am Tage meiner Beauftragung durch den Stadt- und Amtsmann Honiratius. Er half bei der Übersetzung in den Text, der Ihnen, mein Herr, nun vorliegt. Zudem ist sie eingebettet in eine erdachte Handlung eines Landmanns in einer Zeit vor mehr als fünfhundert Jahren.
Die ersten Hähne krähen. Das Morgenlicht dringt durch dachlukenartige Öffnungen in das Haus. Es liegt im Stadtteil Skambonidai in der Oberstadt, wo die tonangebenden Familien leben. Dennoch ist es nur ein schmuckloser, eingeschossiger Bau, bescheiden wie fast alle der rund zehntausend Häuser Athens. Aber wer hier wohnt, hat es gut im Gegensatz zu den Menschen in den überfüllten Elendsquartieren in der Unterstadt.
Die Älteren haben es erlebt: Erst vor einer Generation hatte die Weltmacht Persien unter Xerxes Athen dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem Rückzug der Eroberer durch den heldenhaften Sieg der vereinten Polis der Ägaeis im Jahr ist die Stadt ohne jeden Plan wieder aufgebaut worden. Von der Akropolis, dem auf einem Felsen liegenden Siedlungskern, erscheint sie nun als wirre, graue Ansammlung flacher Dächer. Dazwischen: verwinkelte und ungepflasterte Gassen, höchstens drei Meter breit.
Die Häuser, meist nicht von Maurern, sondern von ungelernten Helfern hingestellt, haben dünne Wände. Sie sind so leicht zu durchstoßen, daß Einbrecher "Mauerdurchbrecher" heißen. Die dunklen und engen Wohnräume öffnen sich jeweils nur zum Innenhof. Ihn muß man also jedesmal überqueren, wenn man von einem Zimmer in ein anderes gehen will. Die mit Kalk geweißten Stuben sind spärlich möbliert: Hölzerne Sessel ohne Armstütze, Hocker, Fußschemel, dreibeinige Tische, eine verzierte Wäschetruhe, bemalte Vasen, Krüge, Schüsseln und Becher aus Ton, seltener aus Metall das genügt einem vornehmen Athener. Wichtig sind für ihn die Vorratskammern: die trockensten für das Getreide, die kühlsten für den Wein, die engsten für die Schweine. Viele Stadtbewohner halten sich Vieh.
Der Hausherr, der die Decken seiner leicht versetzbaren Liege beiseite schiebt, hat nackt geschlafen. Er steht früh auf, wie die meisten Athener. Der Einunddreißigjährige ist schlank und ziemlich durchtrainiert, mittelgroß und kräftig. Das dunkle Haar läßt er, neuer Mode folgend, regelmäßig schneiden. Zum Schnurrbart trägt er einen sauber gestutzten Spitzbart. Ein Siegelring schmückt den vierten Finger seiner linken Hand.
Er heißt Diodoros. Aber weil dieser Name so gebräuchlich ist, hat er Miltiadou hinzugefügt, "Sohn des Miltiades". Er lebt von den Einkünften aus seinem Landgut vor der Stadt und von seinem Kapital, das er gewinnbringend in Sklaven investiert. Er verpachtet sie als Bergleute, die fünfundzwanzigtausend Schritt südöstlich der Stadt aus den staatlichen Gruben Silber, Blei und Zinn fördern. Die qualvoll engen Stollen sind nicht mal einen halben Klafter (#1) hoch. Kauernd reicht man die Säcke mit dem Abraum von Hand zu Hand. Die Aufsässigen unter den tausenden Sklaven sind im Berg angekettet oder an Eisenringe gefesselt.
Das "Goldene Zeitalter" ist in Wahrheit ein silbernes. Dank des Edelmetalls blühen Politik, Kunst, Literatur und Philosophie geradezu explosionsartig auf. Von der Staatskasse bezahlte Architekten, Bildhauer und Tragödiendichter schaffen Werke für die Ewigkeit.
Diodoros gehört zur Minderheit der Wohlhabenden. Ein Müßiggänger, der sich der Schönheit und dem Genuß hingibt, sofern er nicht gerade Gespräche über Politik oder Philosophie führt. Eigentlich ist er auch Ehemann und Vater, doch in dieser Rolle tritt er kaum in Erscheinung.
Wie alle Leute ist auch Diodoros abergläubisch. Er vertraut in wichtigen Fragen Orakeln, die sich im Rauschen von Laub oder in den Weissagungen der Pythia äußern. Er hat, um Platon zu zitieren, "keine Bedenken, Eichen und Steinen zu glauben, solange die Antworten richtig sind."
Sein Haus ist nicht seine Burg, sondern vor allem Schlafstätte. Die Haussklaven liegen nachts, nach Geschlechtern getrennt, zusammengepfercht in Verschlägen. Diodoros und seine Frau haben ein Schlafzimmer. Das ist zwar geräumiger, aber dennoch klein. Der Abort, ein Gefäß aus Ton oder Metall, befindet sich in einer versteckten Ecke auf dem Hof. Die Küche mit rußgeschwärzter Decke ist zugleich Bad. Wenn Diodoros duschen will, steigt ein Sklave auf einen Schemel und überschüttet seinen Herrn krügeweise mit Wasser. Doch das ist knapp.
Diodoros wäscht sich an diesem Morgen nciht, sondern betupft sich stattdessen mit einem öligen Parfüm. Dann legt er den ärmellosen weißen Chiton an, indem er Vorder- und Hinterblatt an der Schulter mit Hakenspannen verknüpft. Auf beiden Siten, denn er trägt den rechten Oberarm ja nicht nackt wie ein arbeitender Sklave. Darüber kommt ein kurzer Mantel, Chlamys genannt, aus dünner Wolle. Purpur, violett, olivgrün oder farbig gestreift.
Diodoros faßt mit der rechten Hand die Falten des Umhangs und wirft sie, weit ausholend, zur Linken hinüber. Eine Geste, die man das "Ankleiden mit der Rechten" nennt. Der älteste der Haussklaven prüft den korrekten Sitz. Ein üppiger Faltenwurf beweist Eleganz und Vornehmheit, unterscheidet den Herrn vom Handwerker.
Frühstück ist für Diodoros Nebensache. Er tunkt ein paar Bissen Brot in seinen Muntermacher, unverdünnten Wein. Weiteren Rebensaft, den er im Laufe des Tages trinken wird, verwässert er dagegen stark.
Währen er seine mit Nägeln beschlagenen Sandalen aus Hundeleder anzieht, überlegt er, wie viele "Eulen" er heute brauchen wird. So nennt man die Silbermünzen, die auf einer Seite das behelmte Haupt der Göttin Athene zeigen, auf der anderen Seite ihren geheiligten Vogel, die Eule. Drei Drachmen steckt Diodoros ein. Das ist soviel, wie ein Bauarbeiter in drei Tagen verdient. Genug für die Einkäufe dieses Tages.
Dann schlägt er, wie jeden Morgen denselben Weg ein, gemessenen Schrittes. Nur Sklaven haben es eilig. Wehe, wenn sie einmal nicht rennen. Diodoros gibt höllisch acht, wohin er tritt. Auf allen Wegen liegen stinkende Abfälle. Misstrauisch behält er die Fenster im Auge, horcht auf den gefürchteten Ruf "Weg da!" Schütten doch manche Mitbürger ihren Unrat nicht nur in der Dunkelheit auf die Gasse.
Diodoros geht gern ins Zentrum der Stadt. So einfach sein Heim ist, so überwältigend sind die Eindrücke hier, Statuen von Göttern, Kriegshelden und Staatmännern, von berühmten Rednern und Sportlern, sogar von Rennpferden stehen überall. In den Tempeln und ihren Nebengebäuden, in Gärten und Kaufhallen, in Theatern, heiligen Grotten und Hainen.
Zuviel des Guten, eine unsinnige Überladung? Diodoros empfindet das anders. Können doch Standbilder Wunder bewirken, vor allem die der Heroen, der halbgöttischen Übermenschen. Auch an den "Hermen" stört er sich nicht. Diesen Kultmälern begegnet man mehrmals in jeder Staße. Ein vierkantiger Schaft, der oben lebensgroß den bärtigen Kopf des Gottes Hermes zeigt und unten dessen mächtiges Geschlecht. Erigiert, mit sorgsam herausgemeißeltem Schamhaar. Der Phallus ist ein Glückssymbol, sein Samen sorgt für Nachkommen. Und er symbolisiert die Grundhaltung der greekischen Gesellschaft: Das Maß aller Dinge ist der Mann. Die Frau trägt zwar die Kinder aus, aber sie ist nicht mehr als ein Gefäß, ein Acker, der die Früchte hervorbringt.
Diodoros gehört zur privilegierten Minderheit der frei geborenen, volljährigen Bürger. Nur sie, etwa jeder Zehnte der Bevölkerung, sind an der Regierung beteiligt. Frauen, ansässige Ausländer und Sklaven haben kein Wahlrecht. Vierzigmal im Jahr tagt Athens Parlament, die Volksversammlung, in einem Theater westlich der Akropolis. Am dortigen Hügel hat man für Tausende steinerne Sitzplätze geschaffen. Hier findet auch eine wichtige Abstimmung statt: das Scherbengericht. An ihr müssen mindestens sechstausend Bürger teilnehmen. Sie schreiben den Namen gefürchteter Politiker auf Tonscherben. Wer 6000 oder mehr Stimmen erhält, der wird für zehn Jahre ins Exil verbannt. So soll verhindert werden, daß Diktatoren an die Macht kommen.
Einmal wollte Diodoros sich vor einer Sitzung drücken. Promt bekam er es mit den Sklaven zu tun, die im Auftrag der Stadt für die öffentliche Ordnung sorgen. Vor jeder Versammlung versperren sie alle Wege und treiben die Bürger mit langen Tauen auf den Hügel. Die Stricke sind mit roter Kreide gefärbt. Weil Diodoros' Umhang an jedem Tag rote Flecken bekam, musste er Strafe zahlen.
Diodoros erinnert sich wie er hier vor einigen Jahren für den begnadeten Redner Perikles gestimmt hat. Der adlige Führer der demokratischen Partei, bekannt für Würze und Kürze seiner Vorträge, lenkt seitdem den athenischen Staat. Seine fünfzehnjährige Regierungszeit, die mit seinem Tod endete, bringt Athen Macht und Wohlstand.
Athens Demokratie ist direkt, ohne den Umweg über gewählte Volksvertreter. Jeder darf die steinerne Tribüne betreten und so lange reden, wie er die Zuhörer fesselt. Auch Diodoros ergriff hier einmal das Wort. Doch er hat es bereut: Den Zwischenrufen und Argumenten scharfzüngiger politischer Gegner war er nicht gewachsen. Nach diesem Misserfolg wollte er spontan eine Rednerschule besuchen, doch der Aufwand an Zeit und Geld schien ihm die Sache nicht wert zu sein.
Alle freien Männer, ob arm oder reich, sollen am öffentlichen Leben teilhaben. Die Athener Verfassung kennt daher neben der Wahl ein Losverfahren. Dadurch hat jeder die Chance, einen Verwaltungsposten einzunehmen. Eine Ausbildung wird nicht verlangt. Doch die Ämter sind auf ein Jahr befristet, und niemand darf mehr als zweimal auf denselben Posten. So sollen Vetternwirtschaft und Bürokratie vermieden werden.
Der Staat bezahlt alle öffentlichen Dienstleistungen. Geschworene, Ratsmitglieder, Bürger, die im Militär dienen, werden täglich für den Verdienstausfall entschädigt. Diese Ausgaben sind ein Hauptposten im Etat des Stadtstaates.
Diodoros rechnet damit, dass ihn das Los bald für ein Jahr in den Rat der Fünfhunder beruft. Dieser entwirft die Tagesordnung der Volksversammlung und bildet eine Art Präsidium. Der Rat der Fünfhundert besteht aus zehn der zehn Strategen. Hier versammeln sich ausschließlich die Feldherren der Streitkräfte. Um in diesen Kreis aufgenommen zu werden muss man, wie Perikles, militärische Erfolge nachweisen.
Diodoros ist kaum eine Viertelstunde unterwegs, da wird das Stimmengewirr am Fuß der Akropolis lärmend: Er erreicht in der Unterstadt die Agora. Sie ist Versammlungsort und Marktplatz zugleich, Athens Mittelpunkt. Ein langgestreckter Platz, etwa hundert mal zweihundert Meter groß, an dem Tempel und Säulenhallen stehen. Die Agora ist ungepflastert und ein mut Kies belegter Prozessionswegs, die Panathenäenstraße, durchzieht sie diagonal.
An der Südwestecke der Agora stehen die Verwaltungsgebäude, während ihr Ostteil ein Labyrinth ungezügelten Unternehmertums bildet: Verkaufsstände und Handwerkerbuden besetzen jeden Meter. Ehemalige Kleinbauern machen jetzt ihr Geld als Gewerbebetreibende. Auf Bänken liegen goldene Ketten und Armbänder, Nadeln und Broschen, Haufen von Kleidungsstücken, Obst, Blumen, Stoffe, Bücher und Kochgeschirr werden hier angeboten, auch Wein in Schläuchen und Myrtenkränze für Bestattungen. Alles und jedes kann man auf dem Markt, sogar Gerichtsvollzieher und Zeugenaussagen, wie der Dichter Eubolos in einer seiner Komödien feststellt.
Sklaven werden auf der Agora einmal im Monat versteigert. Es sind meist Männer und Frauen, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten, die in Kriegsgefangenschaft gerieten oder auf einer Schiffsreise Piraten in die Hände fielen, den gefährlichsten Sklavenhändlern. Die nackt angebotenen Kaufobjekte haben einen ähnlichen Stellenwert wie das Großvieh, die "Starkfüße", und heißen "Menschenfüße". Zum überwiegenden Teil stammen sie aus Barbarenländern. Aber auch ein Grieche kann im Prinzip Sklave werden, wie ja selbst Plato und Diogenes vorübergehend erfahren müssen.
Doch nicht nur Sklaven, auch zahllose Freie bieten ihre Arbeitskraft an. Zwischen die Menge schieben sich schließlich noch die Händler, meist arme Leute vom Land. Schon in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden sind sie auf Esels- oder Maultierkarren gekommen und preisen nun schreiend ihre Waren an.
Die freie Marktwirtschaft bleibt nicht vollkommen unkontrolliert. Städtische Aufseher passen auf, dass kein Kunde übers Ohr gehauen wird. Gegen betrügerische Händler verhängen sie auf der Stelle hohe Geldstrafen.
Wie an jedem Morgen besorgt Diodoros auch heute alles, was seine Familie zum Abendbrot braucht, zur Hauptmahlzeit des Tages. Das Einkaufen ist die Arbeit, die er seiner Frau abnimmt. Die Achtzehnjährige, mit ihrem einunddreißigjährige Mann seit drei Jahren verheiratet, ist eine Art Sklavin auf dem Thron. Sie lebt gefangen in ihrem Haus, ist dort aber nicht ohne Macht. Sie beaufsichtigt die Sklaven, erledigt den umfangreichen Haushalt, stellt aufwendige Web- und Spinnarbeiten her und zieht die beiden Kinder groß. Der zweijährige Sohn soll eines Tages in die Schule gehen, die vor kurzem geborene Tochter dagegen wird ihre Kindheit zu Hause bei der Mutter verbringen. Diodoros weiß noch nicht, ob er sich einmal einen Hauslehrer leisten wird, damit auch das Mädchen lesen und Schreiben lernt. An diesem Vormittag interessiert ihn nur, was am Abend auf den Tisch kommen soll.
Diodoros' Lieblingsessen ist Spanferkel mit Erbsenbrei. Auch Fleisch vom Schwein mag er gern, und Thunfisch sowie Ziegenmilch und -käse schätzt er. Heute mietet sich Diodoros drei Sklaven, denn er kauft reichlich ein. Am Abend erwartet er Gäste. Mit dem, was er feilschend erstanden hat, schickt er die Laufburschen zu sich nach Hause.
Jetzt endlich kann er sich um das kümmern, weshalb er die Agora so liebt und so braucht: die neuesten Nachrichten. Ist diese Woche die Getreideversorgung gesichert? Zwei Drittel der Grundnahrungsmittel müssen übers Meer herbeigeschafft werden. Piraten, Stürme und Großhändler treiben manchmal die Preise hoch und ärmere Menschen an den Rand einer Hungersnot. Noch interessanter, neben Pferdezucht und Boxsport: Die Affären der Volksführer mit leichten Jungen oder Mädchen.
Fragend, zuhörend und erzählend verbringt Diodoros den Rest des Vormittags zwischen Säulenhallen, auf Tempelstufen und neben den Brunnen mit frischem Waser. Diese für die Agora typische Mischung aus Sehen und Gesehenwerden, aus Klatsch und Philosophie wird von den Athenern auch weinloses Symposion genannt. Bei schlechtem Wetter verlegt Diodoros sein Treiben in die Läden und Buden. Dann schaut er zum Salbenhändler hinein, zum Schuster und in die Bildhauerwerkstatt. Niemals aber läßt er die Stube des Barbiers aus, den wichtigsten Umschlagsplatz für politische und vermischte Nachrichten. Hier trifft Diodoros die meisten seiner Freunde.
Am Mittag ißt Diodoros an einem Imbißstand eine gebratene Wurst, dann kauft er ein paar Feigen und geht zum Gymnasion, wörtlich dem Ort der Nacktheit. Sechs dieser öffentlichen Sportstätten gibt es in Athen. Unter der Aufsicht von Trainern können Bürger hier am Breitensport teilnehmen. Diodoros übt heute im Diskuswerfen, später läuft er einige Runden und kühlt sich in einem Wasserbecken ab. Ein Masseur rubbelt ihn anschließend warm und reibt ihn mit parfürmiertem Olivenöl ein.
Gegen abend spielt Diodoros einige Würfelpartien und hört einem älteren Philosophen zu, der einer kleinen Gruppe von Männern seine Sicht des Weltgeschehens erläutert.
Bei Sonnenuntergang ist Diodoros wieder zu Hause. Rechtzeitig zum Symposion, dem Trinkgelage, zu dem er seine Freunde eingeladen hat. In dem eigens dafür vorgesehenen Raum, dem Andron, auf Liegend ruhend, den Arm halb aufgestützt, trinken die Männer verdünnten Wein und ergötzen sich an den Darbietungen von Tänzerinnen und Flötenspielerinnen. Zwei Gäste steuern selbst zur Unterhaltung bei, indem sie zur Begleitung der Lyra singen und selbstverfaßte Gedichte vortragen.
Dann bittt Diodoros zur Ruhe. Er möchte mit seinen Freunden das jüngste Gerücht erörtern, das er am Vormittag aufgeschnappt hat. Angeblich will Perikles die Reichen wieder einmal mit einer Sonderabgabe belasten. Um die Akropolis umzubauen, heißt es. Die Rede ist von einem Parthenon und von Propyläen. Doch die Freunde beruhigen Diodoros. Hat er denn den Seebund vergessen, in dem sich Athen und seine Vielzahl anderer Städte zu einer Allianz gegen Persien zusammengeschlossen haben? In die Kasse des Bündnisses müssen die Verbündeten Jahr für Jahr große Summen für den Bau von Kriegsschiffen einzahlen. Die Gelder liegen seit dem zwei Jahren in Athen, in einem Tempel der Göttin Athene.
Tempel sind nicht nur Heiligtümer. Weil sie als unantastbar gelten, diesen sie zugleich als Depositenbank zur Hinterlegung von Schätzen und als Kreditinstitut. Braucht der attische Staat Geld zu besonders niedrigen Zinssätzen, dann nennt er seine Kreditaufnahme "bei den Göttern leihen".
Wie einer der Gäste berichtet, ist der Dichter Sophokles neuer Schatzmeister des Attischen Seebundes geworden. Da er jahrlang von Perikles gefördert worden ist, drückt er jetzt beide Augen zu, als der Staatschef den Verteidigungshaushalt missbrauchen will. Unter dem zustimmenden Gelächter der übrigen Gäste jubelt einer der Männer: "Bei Zeus, warum soll Perikles nicht die größten und teuersten Architekten bezahlen, um die Akropolis in ein Weltwunder zu verwandeln? Solange er dazu die Gelder fremder Städte einsetzt!"
Diodoros dagegen missfällt, was er da hört. "Hat Perikles nicht gelobt, die Ruinenstätte in ihrem zu belassen, als Mahnmal an die Zerstörung durch die Perser?", fragt er empört. Die Männer debattieren noch eine Weile, dann spielen sie Kottabos. Jeder muss versuchen, schwungvoll dei Neige aus dem Becher auszugießen und ein vereinbartes Ziel zu treffen.
Eine halbe Stunde später ziehen sich die Künstlerinnen aus. Die übliche Orgie beginnt. Allzu lnage dauert sie nicht. Maßhalten in jeder Lebenslage zeichnet die Herren von Welt aus. Die Nacht zum Tage machen, ist verpönt. Auch deshalb, weil die Straßenpolizei ihren Dienst bei Sonnenuntergang beendet. Denn jeder weiß: Nur wer mit halbwegs klarem Kopf seine Fackel trägt, schafft den Weg durch die dunklen Gassen nach Hause. Falls er nicht überfallen wird.
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