Dritte Nacht
Diesmal ist Milos ernster bei der Arbeit. Zwar denkt er hin und wieder über seinen Traum nach. Doch wenn er sieht, dass sein Vater ihn beobachtet, arbeitet er. Einen weiteren Anstunk sollte er sich nicht leisten. Wigberd ist kein milder Vater, er holt auch schon mal den Gürtel hervor. Es ist zwar nur ein Schnürband, aber mit dem richtigen Schwung und dem richtigen Abstand ist auch das schmerzhaft. Milos ist aber froh, das Hanis nicht sein Vater ist. Ein Schmied kann sicher stärker zuhauen. Zumindest zeigen das die Beulen seiner Kumpel. Allerlei Schabernack haben die fünf Jungs schon getrieben. Und alle Väter sagen, dass sie so etwas nie getan haben. Zu glauben ist das nicht. Milos denkt schon, dass auch sein Vater einst keinen Deut besser war. Es gehört zur Jugend, mehr zu wollen, als man darf.
Milos verbringt so den ganzen Tag damit, das Feld zu bestellen und allenthalben nach dem Vieh zu schauen. Als Ältester hat er auch schon einige Weisungen vergeben. Stefan und Karl sollen das Vieh bewachen und sofort rufen, wenn etwas schief läuft oder irgendwas in den Büschen raschelt. Besonders der kleine Karl kann die Gefahren nicht richtig einschätzen. Und so rennt Milos häufig umsonst. Mal ist ein Eichhörnchen, das durch die Büsche am Waldesrand huscht, mal hat ihn eine Ziege umgestoßen. Zu allem Überfluss macht auch Vuk seine Schwierigkeiten. Eigentlich dachte Milos, dass dieser wenigstens für ein wenig Ruhe und Abhilfe sorgen kann. Aber die Eichhörnchen übersieht er und den Welpen nehmen die Ziegen und Schweine auch nicht ernst.
Und wieder hört er Karl von weitem. Aber er schreit lauter. Milos lässt alles stehen und liegen und rennt zu den beiden Viehhütern. Diesmal hat ihn die Ziege schwer erwischt. Wird wohl ein Kopfstoß gewesen sein. Milos hebt den Kleinen mit seiner Platzwunde an der Stirn auf und trägt ihn hastig zum Haus. So viel Mist Milos auch macht, wenn er es vermag, kümmert er sich um seine Geschwister, wie ein Engel. Und er kämpft für sie wie ein Löwe. Auch wenn er solch edle Geschöpfe noch nie gesehen hat, so wie auch die, die ihm dies nachsagen. Man lebt halt doch zu weit weg von der Welt.
Schnell legt er den kleinen auf die Pritsche seines Vaters. Die Mutter und Maria springen auf. Während die Mutter vor Sorge über den kleinen Karl alles um sich herum vergisst, weist Milos Maria an, einen Eimer Wasser und einen Lappen zu holen. Auch wenn sie sich sonst nichts sagen lässt, ist sie doch das einzige junge Mädchen im Dorf, wenn es um die Familie geht, arbeiten sie Hand in Hand, wie ein eingespieltes Duo. So auch als sie zu zweit einen verwirrten Wolf von Stefan fernhielten. Zu einer Zeit als Karl noch gar nicht geboren war. Er war damals neun, sie höchstens sechs. Mit einem Ast schlug Milos damals nach dem Wolf, während Maria Steine auf ihn warf. Sie konnten ihn solange hinhalten, bis die Erwachsenen kamen und das Tier erlegten. Stolz war den beiden damals ins Gesicht geschrieben.
Doch nun steht wieder eine Katastrophe ins Haus, die Tage sind zwar warm, aber die Nächte sind mild. Ohne die richtige Medizin könnte Karl an einer Entzündung leicht sterben. Denn die milde Frische könnte den kleinen Körper auf ein gefährliches Maß schwächen. Dann wäre der Kleine dahin. Milos rennt ins Gatter, ein paar Eier müssen die Hühner doch schon gelegt haben. Völlig aufgeschreckt springen die gestutzten Vögel umher. Nur vier Eier. Milos muss sein Glück versuchen. So schnell ihn seine Beine tragen können, rennt er zum alten Mann. Der hat immer etwas Brauchbares im Haus. Und Eier braucht der Mann fast immer. Milos weiß nicht, wie jemand so viele Eier in so kurzer Zeit verbrauchen kann. Und mumlig ist ihm ja schon. Immerhin ist er jetzt bei eben jenem wirren Alten, der spricht, wenn keiner zuhört oder bei ihm ist. Aber Karl ist jetzt wichtiger. Eigentlich ist der alte Mann ja auch ganz freundlich. Und noch nie hat er jemanden etwas getan. Aber seine Art ist eben sonderbar.
Als er die Tür öffnet, berichtet Milos von seiner missligen Lage, verschluckt in der Eile fast die Hälfte der Worte. Der Alte bewegt seine müden Knochen so schnell es geht zu seinem Tisch. Ein wenig kreist sein Blick und seine Hand über den verschiedenen Mixturen. Doch schnellstmöglich findet er die Wundsalbe und erklärt sie dem Jungen. Kurioserweise kann der Alte nämlich von Zeit zu Zeit recht klar sein, in seinen Ausführungen.
Als der kleine dann auch, so fachgerecht es eine bäuerliche Hütte zulässt, versorgt ist, kümmert sich Milos um Stefan. Der hat ahnungslos auf die Herde geachtet. Bis dahin hat niemand mehr nach ihm geschaut. Milos setzt sich zu ihm, freudig von seinem Hund begrüßt: "Das hast du gut gemacht." Stefan schaut auf den Hund und dann zu Milos. "Ja, ich meine dich Stefan. Du hast noch nie allein, auf die Herde achten müssen, ohne das jemand auf dich aufpasst. Das werde ich auch Vater sagen. Vielleicht wird der dich loben und dich zum Dank an seine Seite setzen. Für heute." Stefan wird etwas verlegen. Sonst gebürt dieser Platz ja Maria.
Den Tag über geschiet nicht mehr viel. Als Milos sieht, dass Wigberd das Gerät einsammelt, das in der Eile auf den Feldern fallengelassen wurde, steht er auf und fragt Stefan: "Willst du heute mal die Tiere heim führen?" Bisher hatte das immer Milos nach der Arbeit gemacht. Seit dem Tage, als Wigberd es ihm auftrug. Ohne zu murren, ohne Widerworte. Für ihn war es eine Ehre, ein Vertrauensbeweis. Und auch Stefan ist stolz, dass er diese Aufgabe mal meistern darf. Von Milos hat er sich die Technik abgeschaut. Man muss sich vor den Tieren aufbauen und wenn man hinter ihnen steht, ein wenig auf ihren Arsch hauen. Mit der flachen Hand oder einen dünnen Stock. Dabei sollte man nie direkt hinter ihnen stehen. Gemächlich macht sich denn auch die Herde auf den Weg. Milos läuft ein wenig Abseits der Tiere, Vuk bei sich. Stefan soll es allein schaffen. Er passt nur auf.
Nach diesem ereignisreichen Tag liegt Milos wieder im Bett. Die Sache mit Karl und Stefan hat ihn das Mädchen fast vergessen lassen. Doch er nimmt seinen Mut zusammen und erzählt seinem Vater nun davon. Der ermahnt ihn "Die Träume haben dreifache Quellen: Gott sendet die frommen Träume, der Menschenleib entwickelt verdächtige Träume. Der Teufel aber schickt die unzüchtigen Träume der Versuchung. Verdränge deinen Traum lieber. Eine Deutung lässt schon der Priester in der Kirche nicht zu. So ist es von Alters her. Sonst öffnest du wohlmöglich noch der Sünde das Tor in deine Seele."
Die Worte des Vaters wiegen schwer, doch wenn er diesen Traum nocheinmal hat, so ist er diesmal fest entschlossen, das Mädchen zu fragen, was es will. Heute ist aber ein bisschen weniger Platz, als die Tage zuvor. Karl liegt wegen seiner Verletzung immernoch in der Pritsche des Vaters, neben der Mutter also. Der Vater hat sich dafür auf dem Stroh eingefunden. Milos und Maria rücken dichter aneinander. In ihrer Nähe fällt es dem ohnehin erschöpften Milos leichter einzuschlafen.
Wieder in diesem Raum wartet Milos auf das Mädchen, das auch alsbald auftaucht. Wieder in der ominösen Blitzerscheinung. "Er wird kommen.", flüstert sie abermals, ohne dass man ihre Lippen sich bewegen sehen könnte. Milos kennt das alles nun schon, auch wenn der Schrecken wieder tief sitzt. Er fasst all seinen Mut zusammen. Diesmal kauert er sich nicht an der Wand zusammen. "Wer wird kommen?", kommt es dennoch recht leise aus ihm. Das Mädchen antwortet nicht. "Hallo?", mit etwas kräftigerer Stimme. Die Angst scheint langsam zu weichen. Das Mädchen dreht sich um, sagt weiterhin kein Wort. Als Mikos ihr folgen will, löst sie sich in Staub vor ihm auf. Milos' Hand, die er nach ihr streckte, zieht er rasch zurück. Wieder ist etwas Neues geschehen.
Diesmal will Milos aber so viel, wie möglich über diesen Ort erfahren. Und so schreitet er zur Tür, immer auf der Hut, ob das Mädchen denn wieder auftauchen würde. Diesmal reißt er die Tür auf. Sofort schlägt ihm viel Hitze entgegen. Auch ist es sehr stickig. Milos geht erst einen Schritt zurück, bevor er sich mit dem Ärmel vor dem Gesicht nach draußen wagt. Als er sich umdreht, um das Gebäude zu besichtigen, von dem er nun schon zum dritten Mal träumt, ist es verschwunden. Es scheint so, als sei er immer hier draußen gewesen. Überall sieht der Junge nur Flammen und Verbranntes. So weit das Auge reicht, ist alles in feurigem Rot getaucht. Doch obschon es sich um ein makaberee Schauspiel handelt, kommt ihm der Ort seltsam vertraut vor. Die Anordnung der noch brennenden Häuser und Höfe kennt er. Es ist sein Dorf. Sitta brennt. Aus dem düsteren Traum, der wahrlich bereits schrecklich genug war, ist nun ein augewachsener Albtraum geworden.
Milos bewegt sich in dem Ort ein wenig hin und her. Vielleicht erfährt er ja, wo die Leute sind. Auf seinem Weg zum Brunnen sieht er bereits einige verkohlte Leichen, vom Vieh und vom Menschen. Ihm wird übel. Doch speien kann er nicht. Und er erkennt die Toten nicht wieder. Keinen einzigen. Wer sind diese Leute? Obwohl sie unbekannt sind, steigen die Tränen in Milos' Augen. So viel Elend hat er sein Lebtag nicht gesehen. Die brennenden Höfe, die verkohlten Kadaver und Leichen. Er kommt sich vor, als träume er von der Hölle.
Am völlig ausgedrockneten Flußlauf sieht er eine Frau. Sie scheint nicht verbrannt zu sein. Schnell rennt er zu ihr. Wer mag sie sein? Er erkennt auch sie nicht. Einige Merkmale kann er zuordnen, aber die Leute, die er kennt, sehen dann doch anders aus. Auch fragt er sich, warum diese Frau als einzige Leiche nicht verkohlt ist. Der Junge schaut noch einmal auf das Dorf. Ist dies eine Vision? Wird das Dorf wirklich eines Tages brennen? Oder hat es das schon? Wieder schweift sein Blick zur Frau vor ihm. Doch nun liegt hier ein Mädchen.
Völlig verschwitzt wacht Milos auf. Er sitzt im Heu. Hastig ist sein Atem. Er schaut zu Maria herüber, die immernoch schläft. Alles ist in Ordnung. Doch was soll er von dem Traum halten? Und immer wieder hallen ihm die Worte des finsteren Mädchens durch den Kopf: "Er wird kommen." Nur wer?