Kapitel XI – der Sprung
In Filmen geschehen solche Dinge immer in Zeitlupe. Der Sprung, der Fall und die panischen Reaktionen derer, die Zeuge der Aktion sind.
Doch nichts im Vergleich mit der Wirklichkeit.
Cassidy war einfach gesprungen. Der Boden kam ihr immer näher. Der Wind streifte sie oder vielmehr schien er an ihr vorbei zu rasen und war kälter als zuvor.
Deutlich konnte sie noch die panischen Schreie der Männer auf dem Dach hören.
Vermutlich hatte keiner damit gerechnet, dass sie es durchziehen würde.
Sie wusste, dass es vorbei sein würde.
Kein Netz. Kein doppelter Boden.
Nur harter Stein. Und Aus!
„Konzentrier dich!“
Eine Stimme aus dem nirgendwo.
Dr. Peeker stand mit den Pflegern an der Dachkante.
Er hatte noch nach Cassidy greifen wollen. Aber er war nicht schnell genug gewesen.
„Echt schade!“ meinte der Mann neben ihm und riss sich von dem Anblick fort. Er wollte sich schon auf den Weg machen, jeden Moment die Leiche des Mädchens aus dem Innenhof zu holen.
„Ja! Echt schade!“ Dr. Peeker´s Stimme klang besorgt und gleichzeitig enttäuscht.
„Konzentrier dich!“ wiederholte die körperlose Stimme in ihrem Kopf.
Sie war sich sicher, sie schon einmal gehört zu haben.
Vielleicht gehörte sie einem der Insassen von Dr. Peeker´s Einrichtung.
Sie wusste nicht auf was sie sich konzentrieren konnte.
Alles was ihr durch den Kopf ging, war dass der Boden, dem sie entgegen sauste nicht so aussah, als würde er ihren Fall abbremsen, ohne dass sie Verletzungen davon trug.
Dummer Gedanke. Wie sollte ein Steinboden weich sein? Und wie sollte man solch einen Sturz überhaupt überleben?
„Konzentrier dich!“
Sie versuchte es.
So sehr wie sie sich nicht darauf zu konzentrieren versuchte, was für eine dumme Idee der Sprung gewesen war, so suchte sie nach einem Ausweg.
In dieser eigentlich ausweglosen Situation.
Nur ganz kurz kamen ihr die Klippenspringer in den Sinn, die sie irgendwann in den letzten Tagen im Fernsehen gesehen hatte.
Sprangen todesmutig von steilen Felsen in die See.
Und wenn statt dem Steinboden nun Wasser unter ihr wäre?
Dr. Peeker sah schon das Unvermeidliche kommen, als er bemerkte, wie sich etwas änderte.
„Das ist nicht möglich!“ meinte er.
Die Männer um ihn herum waren ebenso irritiert.
Sie konnten dabei zusehen, wie der harte Steinboden sich in tosendes Wasser verwandelte.
Und sie alle konnten sehen, dass Cassidy in dieses Wasser eintauchte.
„Wie?“ Der Mann neben Dr. Peeker hatte sich über die Dachkante gebeugt und war auch nur noch wenige Zentimeter davon entfernt, selbst hinunter zu stürzen.
„Sie ist gut!“ kam nur von Dr. Peeker mit einem Schmunzeln, „Ich hätte nur nicht gedacht, dass sie so gut ist!“
Alle auf dem Dach konnten mit ansehen, wie der Boden sich verwandelt hatte.
Sie alle konnten sehen wie Cassidy ins Wasser eintauchte.
Doch kaum hatte sie das Wasser berührt, verschwand es auch wieder. Und mit dem Wasser auch Cassidy.
„Sie ist weg?“
Verwirrung und Erstaunen auf dem Dach.
Selbst Dr. Peeker war überrascht.
„So gut?“
Er sah noch einmal nach unten, um zu überprüfen, ob sie nicht doch auf dem Steinboden gelandet war.
Dann drehte er sich um und ging wieder in Richtung seines Büros. Er hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas passieren würde.
Allerdings war er nicht wirklich unvorbereitet.
Kaum im Büro angekommen, griff er nach seinem Telefon.
Er brauchte nicht viel zu sagen.
„Sie ist entkommen!“
Die Person am anderen Ende schien genauso überrascht wie er zuvor.
„Sie hat einfach die Realität geändert!“ meinte Dr. Peeker.
„Wo wird sie sein?“ wollte der andere wissen.
„Finde sie einfach! Und bring sie mir wieder!“ befahl Dr. Peeker nur.
Die andere Stimme bestätigte den Auftrag und wollte bereits auflegen, als Dr. Peeker noch weitere Instruktionen durch gab.
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, lehnte er sich kurz zurück.
Er hatte schon einige Traumwanderer getroffen. Aber noch nie sehr viele die so mächtig waren.
Vermutlich wusste Cassidy noch nicht einmal was sie gerade getan hatte.
Wusste nicht, dass sie vermutlich besser war als die meisten von Dr. Peeker´s Jägern.
Und solange wie sie unwissend war, würde er sie auch wiederbekommen, hoffte Dr. Peeker.
Cassidy hatte die Augen geschlossen. Sie wollte nicht sehen, wo sie jeden Moment aufkommen würde.
Erschrocken musste sie feststellen, dass es nicht der harte Boden war, der sie empfing, sondern kaltes Nass.
Sie riss ihre Augen wieder auf. Um sie herum war es dunkel und sie spürte neben der Kälte auch einen starken Druck, der sie umgab.
Sie wollte schon schreien, doch dies war ein ungünstiger Moment den Mund auf zumachen.
Ehe sie wirklich begriff, was passiert war, war es schon beinahe zu spät.
Sie schluckte Salzwasser und allmählich ging ihr die Luft und auch die Kraft aus.
Sie musste nach oben, an die Oberfläche. Dahin wo es Luft gab.
Es war anstrengend.
Und kaum hatte sie die Wasseroberfläche erreicht, erkannte sie auch warum.
Sie war inmitten eines tosenden Meeres.
Ihr kam sofort in den Sinn, dass sie sich vielleicht hätte eher in ein ruhiges Gewässer wünschen sollen. Einen kleinen See oder vielleicht einfach nur in die Schwimmhalle.
Sie konnte kein Ufer sehen. Ringsum nur Wellen und der düstere Himmel über ihr.
Und dennoch konnte sie aus dem vielen Wasser noch etwas sehen.
Und das war etwas, was sie hatte nicht so schnell wieder sehen wollen.
Instinktiv begann sie zu schwimmen.
Doch die Wellen waren stärker als sie. Ein vorankommen unmöglich. Vor allem für einen so ungeübten Schwimmer wie sie.
Diesmal gab ihr niemand einen hilfreichen Tipp. Niemand war da um ihr zu helfen.
Niemand außer dem schwarzen Schatten, der auf sie zu schwamm.
Der Schatten glitt mühelos durch das Wasser.
Cassidy wollte weg. Sie wollte schreien. Doch wie bei der letzten Begegnung mit dem Wesen, war ihre Stimme verstummt.
Und das tonlose Aufreißen ihres Mundes brachte nur mehr salziges Wasser in sie.
Der Schatten war kurz vor ihr. Und wieder schien er mit einer Klaue nach ihr greifen zu wollen.
Ihre Fluchtversuche waren vergebens.
Deutlich konnte sie spüren, wie das Ding nach ihr griff.
Und ihr kam nur in den Sinn, dass alles nur ein dummer Traum sei. Sie sei sicher bei ihrer Familie.
Sie wünschte es sich so sehr.
Der Schatten packte sie am Arm und zog sie nach unten.
Die Luft ging ihr langsam wieder aus.
„Ich will zu meiner Familie!“ war ihr letzter Gedanke.
Sie hatte keine Kraft mehr gegen den Schatten oder das Wasser zu kämpfen.
Immer tiefer glitt sie hinab.
In die Dunkelheit.
Lennox steuerte noch immer den Wagen über den merkwürdigen Highway. Er ignorierte die Fragen seiner beiden Beifahrer.
Er konzentrierte sich auf irgendetwas, was die beiden eh nicht verstehen würden.
Mit einem Male regnete es. Und zwar so stark, dass man vermuten konnte in einen Monsun hineingeraten zu sein.
Durch den Regen konnte Lennox nichts mehr auf der Straße erkennen und er stoppte.
„Wieso hältst du?“ wollte Felice wissen, „Hier ist doch nichts!“
Bis jetzt hatten sie nichts anderes als die Straße vor sich gesehen. Leer und endlos.
Lennox sagte nichts. Noch immer hielt er nach irgendetwas Ausschau. Nur dass der Regen zu stark war, um irgendetwas vor sich zu sehen.
„Was ist los?“ Ryan spürte, dass es einen Grund haben musste, weswegen der Kerl so eigenartig reagierte.
„Hier ist irgendjemand!“ meinte Lennox nur und starrte weiter vor sich übers Lenkrad.
„Sollten wir dann nicht weiterfahren?“ Felice klang unsicher. Sie erinnerte sich daran, wie der Punker erklärt hatte, dass man sie nicht so schnell finden würde, wenn sie unterwegs waren. Und dass sie in Gefahr waren.
„Irgendwer blockiert!“ war Lennox Antwort.
Noch immer wartete er auf irgendein Zeichen.
Ein Blitz durchzog den Himmel und der Donner ließ alles ringsum erzittern.
Es war so laut und vor allem plötzlich, dass sich Felice erschrocken an Ryan klammerte.
„Was war das?“ wollte sie flüsternd wissen.
Noch einmal zog ein Blitz durch den Himmel.
Der Regen wurde schwächer. Dennoch würde er reichen, um innerhalb weniger Sekunden vollkommen durchnässt zu sein.
„Da vorn!“ Ryan zeigte auf eine Landschaft, die plötzlich zusammen mit dem Blitz vor ihnen aufgetaucht war.
Es war zu dunkel, um wirklich etwas genaues zu erkennen.
Und wie auf ein Zeichen hin, erhellte ein Blitz die Gegend und lies alle Drei einen Blick auf ihre Umgebung werfen.
„Das ist ein Friedhof!“ kam erschrocken von Felice, deren Finger sich schon regelrecht in Ryan´s Arm bohrten.
„Der Friedhof von unserer Stadt!“ korrigierte Ryan sofort.
Beide rissen ihre Augen von dem Friedhof und starrten ihren Fahrer an.
„Sie hat uns gefunden!“ meinte dieser nur und suchte die Umgebung weiter ab.
Wonach er genau suchte, wollte er nicht sagen.
Erst nach einer Weile blieb sein Blick auf dem Friedhof haften.
„Sie muss dort sein!“ murmelte er.
„Warum kommt sie dann nicht zu uns?“ wollte Felice wissen.
Lennox zuckte nur mit den Schultern, sah sich erneut um und stieg aus dem Wagen.
Ryan stieg ebenfalls aus. Kam allerdings nicht sehr weit, da Felice ihn noch immer festhielt.
„Was wenn er uns rein legt?“ flüsterte sie ihm zu, „Das hier könnte doch eine Falle sein!“
Ryan richtete einen Blick auf Lennox, der allmählich auf den Friedhof zuging.
„Vielleicht!“ meinte er nur, „Aber ich hab so ein Gefühl, dass Cassie dort ist!“
Felice wollte noch immer nicht mitgehen. Allerdings wollte sie auch nicht allein bleiben.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als Ryan zu folgen, an dessen sie Arm förmlich klebte.
Wie erwartet, waren sie innerhalb kürzester Zeit bis auf die Unterwäsche vom Regen durchnässt. Selbst der Boden unter ihren Füßen konnte nichts mit dem vielen Wasser anfangen und verwandelte sich immer mehr in einen glitschigen Schlammpfad.
„Cassidy!“ Lennox´ Stimme hallte lautstark über den dunklen Friedhof.
„Hey Mann, warum sollte sie hier sein?“ wollte Ryan von ihm wissen, sobald er den Punk eingeholt hatte.
„Was weiß ich!“ meinte der nur und strich sich die blauen Haare, die durch den Regen keinen Halt mehr hatten, aus den Augen.
Dann rief er wieder nach Cassidy.
Ryan wollte schon fragen, weswegen Lennox nach Cassidy suchte. Nicht, dass er sich das schon zuvor gefragt hatte.
Doch noch bevor er die Frage stellen konnte, bemerkte er wie weit sie gelaufen waren.
Die Grabsteine vor ihm kamen ihm bekannt vor.
Mindestens einmal im Monat war er hier entlanggegangen.
Und mit einem Male wusste er auch wo er hingehen musste.
Wusste, wo er Cassidy finden würde.
Ryan schritt an Lennox vorbei und ging dem ihm bekannten Weg weiter. Felice hatte nicht Schritt halten können und so hatte er sich von ihr losgerissen.
Nur wenige Grabreihen weiter blieb Ryan stehen.
„Cassie?“ Es war ein leises Flüstern und dennoch laut genug um Felice anzuspurnen, schnell an seine Seite zu kommen.
„Was ist passiert?“ sofort beherrschte Panik Felice´s Stimme.
Vor ihnen lag Cassidy.
Es sah aus als habe sie irgendwer in dem Matsch, der ursprünglich mal eine grüne Rasenfläche vor dem Grabstein war, abgeworfen.
Sie war von einer Pfütze regelrecht umgeben und ihre Kleidung, welche weder Ryan noch Felice zuvor an ihr hatten gesehen, war zerfetzt, voller Matsch und durchweicht.
Lennox war schneller als Ryan und prüfte Cassidy´s Lebenszeichen.
„Sie ist okay!“ meinte er, „Weitesgehend!“
Er strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht.
„Was soll das heißen?“ Felice ging ebenfalls in die Hocke, um selbst nach ihrer Freundin zu sehen.
Sie erschien erleichtert darüber, dass Cassidy zwar mehr tot als lebendig aussah, aber zumindest atmete.
Mit einem Male war Lennox wieder auf den Beinen. Sein Blick über die Grabsteine gerichtet.
Ryan sah ebenfalls in die Richtung, konnte aber nichts erkennen.
„Bringt sie weg hier!“ meinte Lennox nur und knifft die Augen zusammen.
Ryan stellte keine weiteren Fragen. Er griff Cassidy und nahm sie in seine Arme.
„Bring sie weg!“ knurrte Lennox noch einmal, ohne wirklich den Blick auf Ryan oder Felice zu richten.
Und dann konnten auch die beiden erkennen, was Lennox´ Aufmerksamkeit erweckt hatte.
Wie dunkle Schatten bewegten sich mehrere Männer auf sie zu.
„Los jetzt!“ schrie Lennox Ryan an.
„Was ist mit dir?“ wollte dieser nur wissen.
„Ich halt sie auf!“ bekam Ryan nur als Antwort, dann rannte Lennox den Männern entgegen.
Felice war wieder in Richtung des Pick-Ups gelaufen.
Nicht nur, dass ihr die ganze Sache ohnehin ziemlich beängstigend vor kam, so konnte sie deutlich erkennen, dass die Männer, die plötzlich aufgetaucht waren, nichts Gutes bedeuten konnten.
Sobald sie den Wagen erreicht hatte, riss sie sofort die Fahrertür auf und lief zur Beifahrertür und stieg ein.
Sie brauchte nicht lange warten, da tauchte Ryan mit Cassidy im Arm auf. Mit Felice´s Hilfe setzte er Cassidy in die Mitte und sprang selbst hinters Steuer.
Deutlich konnten sie die Rufe und das Kampfgebrüll hören.
Einerseits wollte Ryan zurück rennen und Lennox helfen, andererseits aber wollte er auch einfach nur weg hier. Er hatte schließlich gefunden, was er gesucht hatte.
Cassidy war hier bei ihm und Felice und sie sollten einfach nur hier weg. Weg von den Männern, die auf den Wagen zu kamen.