"Lenkt Gott die Welt und ist unser Schicksal vorherbestimmt?"
Ein paar Tage nach unserem letzten Gespräch hielt Gundelfing eine interessante Predigt. Ihm war es immer daran gelegen, das Freiwillige im Dienst für Gott hervorzutun. Du schreibst meine Geschichten nicht auf, weil Gott uns heute ganz gezielt zusammen gesetzt hat und ich habe die Kämpfe meines Lebens nicht deswegen geführt, weil Gott jede Begebenheit meines Lebens in diese Kämpfe gesteuert hat, so dass sie unausweichlich sind.
Diese vorgetragene Predigt war prägend für mich und Gundelfing betonte, dass dies auf eigenen Studien der Bibel beruhte. Er lehrte uns etwas, dass er nicht im Kloster gelernt hat, durch das Abschreiben irgendwelcher Schriften von Heiligen oder dem Rezitieren von irgendwelchen Exegeten.
Gundelfing begann mit einer Bibelstelle, die für gewöhnlich damit ausgelegt wird, dass Gott vorher wisse, wie alles ablaufen wird und es genau so lenkt. Er las aus einem der Paulusbriefe: "Keine Versuchung hat euch ergriffen, ausgenommen eine allgemein menschliche. Gott aber ist treu, und er wird nicht zulassen, daß ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Versuchung wird er auch den Ausweg schaffen, damit ihr sie ertragen könnt."
Dann schaute er in die Runde der Zuhörer. Kurze Stille. "Denkt ihr, Gott wägt im Voraus ab, was wir ertragen können, und entscheidet dann, welchen Schwierigkeiten wir begegnen?"
Wieder Stille. Er schaute zu Felix: "Hat er die Schwester deiner Schwiegertochter im Kindbett sterben lassen, weil er wusste, dass deren Eltern es ertragen können?"
Dann wurde er allgemeiner und fragte in die Runde: "Lässt er Frieden auf jenem Landstrich und bringt einem Volk den Krieg, weil sie es unterschiedlich ertragen können? Stirbt der eine jung und der andere alt, weil sie ein unterschiedliches Maß an Durchhaltevermögen haben? Lässt er den einen in die Sünde laufen, den anderen aber warnt er, je nach Kraft, die der Sünder in der ewigen Feuerqual der Hölle aufzubringen vermag?"
Er ließ uns kurz Zeit über die Fragen nachzudenken. Irgendwie wollten diese Fragen nicht zu einem Gott passen, der seinen Sohn aus Liebe für alle Menschen dahingab und hoffte, dass alle Sünder zur Reue gelangen. Das passt nicht.
"Gibt es stichhaltige Gründe zu glauben, Gott lenke Ereignisse in unserem Leben auf so konkrete Weise, dass wir in genau solche Prüfungen kommen müssen?", unterbrach er unsere Stille. "Ich nenne euch vier Gründe, warum man das nicht schlussfolgern kann."
Wir warteten gespannt. Er verstand es, seine Zuhörerschaft in den Bann zu ziehen. Er sagte: "Es gibt keinen biblischen Grund zu glauben, dass Gott erst beurteilt, was wir ertragen können, und dann entscheidet, was er zulässt. Der erste Grund für diese Schlussfolgerung ist folgender: Gott gab uns einen freien Willen. Im fünften Buch des Mose nimmt 'Gott Himmel und Erde als Zeugen, um zu bekunden, dass er einem jeden von euch Leben und Tod vorlegt habe, Segen und Fluch. Du sollst das Leben wählen, damit du am Leben bleibst, du und deine Nachkommen. Dies, indem du deinen Gott liebst, auf seine Stimme hörst und fest zu ihm hältst. Denn er ist das Leben.' Auch sagte Josua, der Nachfolger des Mose, nachdem er alle Machttaten Gottes für sein Volk aufgezählt hatte, dass es dem Volk frei steht, den Göttern der Vorfahren auf der anderen Seite des Euphrat oder den Göttern der Amorịter, in deren Land sie nun wohnten zu huldigen. Er aber und seine Familie werden Gott dienen. So dient auch ihr dem wahren Gott, dem lebendigen Gott. Er wird eure Pfade gerade machen. Folgt dem Satan und seinen Dämonen und es wird euch am Tag des letzten Gerichtes schlecht ergehen. Dies ist der Rat Gottes. Doch würde er festlegen, welche Schwierigkeiten uns begegnen, würde er dann nicht in Wirklichkeit unseren freien Willen schmälern? Doch ohne freien Willen bräuchten wir keine Ermahnung und keine Belehrung. Wir wären wie ein Werkzeug, da dieses seinen Zweck nicht bestimmt und sich der Benutzung nicht erwehren kann."
Wieder ließ er eine Pause, um unser Denken anzuregen. Er befeuchtete kurz seine Lippen und fuhr fort: "Der zweite Grund ist jener, den Jesus auf Erden erwähnte. Im Evangelium des Lukas wird ein tragisches Ereignis beschrieben. Ein Turm stürzt um und achtzehn Menschen sterben. Doch der Christus stellte klar, dass es nicht die Sünde war, die diesen Menschen das Leben kostete. Jeus sagte: 'Zeit und unvorhergesehene Dinge trifft uns alle'. Gott gibt den Rat, sein Haus auf festem Grund zu bauen. Er selbst hinterlässt in der Schöpfung viele Beispiele für Bauwerke, die Jahrtausende überdauern. Doch die Häuser und Türme errichtet der Mensch. Stürzen sie ein kann es jeden treffen. Doch Gott hat es nicht verursacht. So wie er das Leid des Hiob nicht verursacht hat."
Er blätterte kurz nach vorn: "Das führt uns zum dritten Grund. Jeder von uns ist in die Streitfrage um die Souveränität Gottes verwickelt. Satan, sein Widersacher stellt Gott als Lügner dar. Er hat Eva geraten, die verbotene Frucht zu essen, da Gott Ihnen diese vorenthalte und so die Welt ins Unglück gestürzt. Seitdem prüft er immer wieder, ob Menschen loyal zu Gott stehen können und wollen. Satan behauptete, Hiob würde ihn nur anbeten, weil Gott ihm alles gegeben hat und nun schützt. Wie ihr die Geschichte kennt, blieb Hiob auch lauter, als Satan ihm Vieh und Kinder nimmt, ihn arm und krank macht. Angenommen, Gott bewahrt uns vor bestimmten Schwierigkeiten, weil er sie als untragbar einstuft ... Würde dies nicht Satans Behauptung stützen?"
Jetzt blätterte er wieder ein wenig nach hinten: "Das führt uns schon zum vierten und damit letzten Grund. Gott, der Allmächtige, kann in die Zukunft schauen und in die Vergangenheit. Wie aus den Worten Davids hervorgeht, sieht er uns schon im Mutterleib, noch ehe wir gezeugt sind. Doch er möchte gar nicht alles vorhersehen. Zu denken, Gott lege im Voraus unsere Schwierigkeiten fest, hieße, dass er alles über unsere Zukunft weiß. Das ist aber nicht biblisch."
Unsere fragenden Gesichter brachten ihn kurz zum Schmunzeln und er wusste um seine Aufmerksamkeit: "Natürlich kann Gott in die Zukunft blicken, denn es schreibt sein Prophet in alter Zeit, Jesaja, aus dem Munde Gottes folgendes Wort: 'Von Anfang an sage ich vorher, wie eine Sache ausgeht und lange im Voraus kündige ich an, was noch nicht getan worden ist. Ich sage, meine Entscheidung wird feststehen und ich werde tun, was immer ich möchte.' Aber gemäß den Worten Mose wählt Gott gezielt aus, welche Geschehnisse er vorhersehen möchte. So ist es geschehen vor der Vernichtung Sodoms und Gomọrras als Gott in Gestalt der drei Engel zu Abraham sagte: 'Der Aufschrei gegen Sọdom und Gomọrra ist wirklich groß und ihre Sünde ist sehr schwer. Ich werde hinuntergehen und nachsehen, ob ihr Handeln tatsächlich dem Aufschrei entspricht, den ich gehört habe. Und wenn nicht, kann ich es herausfinden.' Auch bestätigt es sich, abermals bei Mose, dass Gott auch Abrahams Opfer sah, bevor er es gab, denn so sprach er zu ihm: 'Tu dem Jungen nichts, denn ich weiß wohl, dass du Ehrfurcht vor mir hast, weil du mir deinen Sohn, deinen einzigen Sohn, nicht vorenthalten hast.'
Gebraucht er also sein Vorherwissen, respektiert er dabei unseren freien Willen. Und vollkommen ist sein Tun."
Wieder eine Denkpause: "Wie also sind die Worte des Paulus' zu verstehen, dass Gott uns nicht über unser Vermögen versuchen wird. Nun, wichtig ist nicht, was Gott vor einer schwierigen Situation tut. Wichtig ist, was er in der schwierigen Situation tut. Paulus sagte ja, 'Gott wird nicht zulassen', dass die Versuchung zu groß wird und 'er wird den Ausweg schaffen'. Damit ist nicht allein das künftige Seelenheil im Himmel gemeint, dass durch Jesu Blut und Gottes Gnade erfüllte Siegel, dass den frommen und guten dieser Welt erwarten darf. Diese Worte sind direkt zu verstehen.
Wenn wir auf Gott und Christus, unseren Herrn vertrauen, wird er uns stützen. Keine Prüfung wird mit Gottvertrauen zu schwer werden. Paulus sagte auch, dass jede Versuchung eine 'allgemein menschliche' ist und bezieht sich im Kontext auf das Volk Israel, das in der Wildnis ja ebenfalls Prüfungen ausgesetzt war. Sie litten, wenn sie ungehorsam waren und lebten ohne Mühen, wenn sie auf ihn ihr Vertrauen legten. Nichts, was uns widerfährt, ist Gott und seinen Engeln neu. 'Gott ist treu', schrieb Paulus in diesem Brief. Aller Verrat kommt von Menschen oder Dämonen."
Nun kam er zum Ende seiner Ausführungen und befeuchtete noch ein letztes Mal seine Lippen: "Doch Gott wischt nicht einfach alle Sorgen beiseite," sagte er: "sondern er wird 'den Ausweg schaffen, damit wir es ertragen können'. Das geschieht durch geistigen Beistand und die Hoffnung auf das Himmelreich. Geistige Anleitung kann unseren Schritt in vernünftige Bahnen lenken und uns aus schwierigen Situationen herausführen. Aber auch ihr untereinander könnt Mut machen, sogar ihr Kinderlein. Erinnert euch daran, welche Prüfungen schin hinter euch liegen und wie ihr stärker als zuvor aus ihnen hervorkamt."
Er atmete noch einmal tief durch und wurde in der Stimme ruhiger: "Gott sucht die Prüfungen nicht für uns aus und in der Prüfung, meine Brüder und Schwestern, lässt er uns nicht allein."
Ich habe beim alten Priester nie Applaus gehört. Nur so viel möchte ich seiner Rede beifügen.