Kapitel I
Samstag, 09.Oktober
Meine Gedanken halten mich mal wieder gefangen und führen mich weit weg in eine einsame , dunkle Welt. Eine Welt, die ich größten Teils hinter mir gelassen habe oder die nun vielmehr tief in mir wohnt und die ich schon fast ganz vergessen habe. Ab und an nur taucht sie auf und nimmt mich gefangen - ohne Vorbereitung, ohne ersichtlichen Grund.
Sie ist dunkel, kühl,drängt sich mir auf und mich in mir zurück. Die Wirklichkeit verschiebt sich. Alles wird unwirklich um mich herum. Was ist real? Was Realität? Ich werde, wie in einem Trancezustand versetzt. Alles fühlt ich so fluffig an. Was ist los mit mir? Manchmal nur stellt sich mir diese Frage. Andermal laß ich mich einfach so treiben - treiben ins Nichts, treiben in die Leere.
Alles wirkt so zerbrechlich, so endlich, so verletzlich - so wie ich. Ich kann sie spüren, meine Verletzlichkeit, meine Schwäche, meine Vergänglichkeit. Ich weiß, daß alles in Bewegung ist und doch irgendwie still steht - für mich, damit ich es in mich aufsaugen kann. Ich habe Angst irgend etwas, was mir wichtig ist, zu vergessen. Nichts ist selbstverständlich, nicht normal. Was ist Normalität denn auch schon? EIne fragliche Definition der Masse in der man sich bewegt, in der ich mich bewege.
Sind meine Gedanken frei? Darf ich alles Denken, was ich denke und wenn ja warum fühlt sich manches so schwer an? Woher kommt dieses fragende Etwas? Woher kommt meine hohe Selbstkritik? Ich hab noch viel vor mir, wie ich merke.
Vor allem die Sprünge meiner Gednaken und Gefühle gehen einfach viel zu schnell. Ich kann sie momentan noch nicht stoppen, noch nicht in eine Form bringen, doch ich weiß, bin überzeugt davon, daß mir dies gelingen wird, denn ich habe eine wundervolle Stütze an meine Seite bekommen. Seit langer, langer Zeit verspüre ich nun endlich das Gefühl angekommen zu sein und mich öffnen zu können und zu dürfen. Zwar hab ich selber Angst mir an verschiedenen Stellen zu begegnen, doch es ist bestimmt sehr nützlich. Lange Zeit war ich in mir gefangen und nun fühle ich mich verstanden und geliebt, nun fühle ich mich frei zu experimentieren und weiß, ich werde ernst genommen und akzeptiert.
Ach, da hab ich mich schon wieder erwischt bei dem Angreifen meiner eigenen Gedanken. Kaum sage ich, daß ich mich erst genommen fühle und schon verurteile ich mich gleichermaßen dafür, daß ich so was denke, weil es ja irgendwie so klingt als hätte man mich bisher nie ernst genommen, was ja auch nicht der Wahrheit entspricht. Genau solche Dinge sind es, die es mir selbst, in mir, schwer machen.
Achja, schon verwirrend oder eher chaoisch ist alles mal wieder. Ich sollte mich bemühen in meine wirren Gedanken wirklich in eine gewisse Reihenfolge zu bringen, auch wenns viel ist, was sich mir zeitgleich aufdrängen will. Ich muß es irgendwie schaffen, wenn ich los werden will, was mich immer wieder unverhofft gefangen nimmt - meine dunkle, kühle, einsamme Gedankenwelt, die doch eigendlich nur extrem laut nach Liebe und Versöhnung mit mir selbst schreit.
Sonntag, 10.Oktober
Ich bin nicht allein. Dieser Gedanke begleitet mich. Lange, lange Zeit, ja bis jetzt, fühlte und war ich allein in meiner Welt, in mir drin, doch nun ist es anders. Erst glaubte ich, alles sei wie immer, doch dann, als ich durch meine einsammen, kühlen und dunklen Räumen in mir schritt, welche Traurigkeit auslösen, sah ich etwas. Ich sah jemanden. Ich sah Licht. Eine Stelle der Mauer scheint kaputt zu sein. Sie hat Risse oder besser gesagt, es sieht so aus als fehle da ein ganzer Stein.
Was Liebe so alles kann? Ich habe darüber schon so oft nachgedacht: Egal, wie sehr mich jemand lieben würde, in mir würde ich immer allein sein. Wer könnte in mich eindringen? Wer würde eine so schwache Person vermuten hinter der Fasade einer starken Frau? Ich weiß, daß immer alle meinen, daß ich stark sei, doch ich selbst schätze mich nicht als besonders stark ein.
Wahrscheinlich ist dies auch immer der Grund warum alle meinen ich schaffe es - was immer dieses "es" dann auch sein mag. Ich fühle mich allein mit diesem "es" - manchmal überfordert, mehr verzweifelt. Ich suche helfende Hände, doch man sieht nur die starke Frau. Bin ich nicht selbst daran Schuld? Schuld, daß man mir nicht mehr hilft? Ich versuch zu verstehen, warum mir andere, von denen ich es erwarten oder wünschen würde die benötigte Hilfe nicht anbieten oder auch bei Nachfrage verweigern, indem sie auf Unlust oder sonstige Banalitäten verweisen, doch ich versuche sie zu verstehen. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich in meinem Kopf für sie Begründungen einfallen lasse, die relativ plausibel klingen - irgendwo nachvollziehbar für mich, auch wenn ich es anders machen würde.
Nun diese defekte Mauer. Er hat den Raum betreten, hineingeschlüpft durch dieses Loch. Da steht er nun im Halbdunkel und sieht mich liebevoll an. Er reicht mir seine Hand, trocknet meine Tränen mit seiner Hand. Er erste Schreck über das Bemerken meinerseits, daß er mir so nahe gekommen ist, weicht langsam einem angenehmen Gefühl: ich bin nicht allein.
Noch niemand war mir bisher so nah. Selbst beste Freunde oder die Eltern nicht. Immer gab es Räume in mir die dunkel, kalt und einsam waren und ich weiß daß diese auch noch weiter so bestehen werden. Dennoch tut das Licht, was er mit in diesen einen Raum bringt gut. Ich sehe Berge von Arbeit vor mir, gleich Türmen, die umkippen und auf mich fallen wollen, wenn ich sie nicht stütze oder abtrage. Er macht mir klar, daß er mir dabei helfen will. Ich möchte daß er bleibt und dennoch habe ich Angst. Sie sitzt so tief in mir. Noch nie hat jemand diesen Raum so aufdringlich betreten. Alle, die vielleicht mal die Möglichkeit hatten hinein zu sehen, sahen auch schnell wieder weg. Manche warfen noch eine Kiste hinein, andere bemerkten die Arbeit und rieten mir sie zu erledigen, abzuarbeiten, doch niemand blieb so permanent da. Niemand drängte mir seine Hilfe so auf. Niemand bemühte sich so akribisch meine Hand fest zu halten.
Ich werde ihm die Räume zeigen -Stück für Stück - und mal sehen was geschieht. Er wirft mir einen warmen Mantel zu. Seine Wärme umarmt mich, läßt mich seine Gegenwart wahrnehmen, egal in welchen Winkel ich mich begebe, auch wenn ich an Stellen meiner innern Räumen gehe, zu denen er mir nicht folgen kann oder ich ihn noch nicht folgen lassen kann.
Kapitel II
Er schlägt das Tagebuch wieder zu. Es ist schwarz und unscheinbar, mit einem kleinen silberfarbenen Schloß versehen. Als sie vom Krankenhaus in diese psychartische Einrichtung übergeben wurde, befand sich dieses Buch in ihrer Tasche. Eine aufmerksame Krankenschwester hat es heimlich heraus geholt und ihm übergeben, mit der Bitte, es zu lesen, da sie hofft, daß er ihr dann besser helfen könne, wenn er ihre Gedankenwelt kennt. Solche gut gemeinten Hinweise kommen ihm, als Psychater, sehr gelegen. Wie vielen Menschen könnte er besser helfen, wenn sich diese wirklich ehrlich und offen äußern würden. So ein Tagebuch ist dann Gold wert. Jeden Tag hat er darin gelesen, einige Stellen mehrfach.
"Warum haben sie es getan?" Sie schweigt, sieht ihn nicht an. In dem großen, hohen, ledernen Sessel wirkt sie verloren. Ihr Blick ist fest auf den kleinen runden Glastisch gerichtet. Er ist schwarz, so wie der lederne Sessel, in dem sie versunken ist und die restlichen Möbel des Zimmers. Die Wand ist leicht beige gefärbt und seltsame Gemälde hängen daran. Ein Bild, zu ihrer Rechten, fesselt immer mal wieder ihre Aufmerksamkeit. Es besteht aus farbigen Kästchen, die aussehen, als seinen sie von Kinderhand gezeichnet. "Bitte, sagen sie mir warum sie es getan haben! Was war ihr Beweggrund?" Sie zeigt keine Reaktion und würdigt seine Bemühungen keines Blickes. "Ich möchte Ihnen hefen. Dafür müssen sie mir allerdings vertrauen und mir sagen, was sie zu ihrem Handeln veranlaßt hat." Sie möchte nicht darüber reden. Mehrfach schon hat sie ihn dies verdeutlich. Auch heute wird diese Sitzung wieder vergebens sein.
"Ich versteh nicht, warum sie mich so ignoriert. Ich bin ihr Psycharter. Ich will ihr doch helfen. Ich meine, der Grund für ihr handeln; ich glaube nicht, nein ich bin überzeugt, es war keine Kurzschlußreaktion." "Mag sein, machen kannst du nichts. Wenn sie dir nichts weiter erzählen möchte, hast du keine Chance die Zusammenhänge zu verstehen." "Ich weiß." Er nippt an seiner Tasse. "Vielleicht ist sie aber auch nur mißtrauisch, denn schließlich ist sie selbst eine sehr erfolgreiche Anwältin." "Gewesen, mein Kollege, gewesen. Sie wird nicht einen Auftrag mehr bekommen, auch später nicht. Falls doch, dann wird sie daran zerbrechen, solange nicht ihre eigene Tat geklärt ist." "Mag sein." "Für jemand, der sie seit kurzem erst kennt, scheint ihre Handlung eine spontane, unbedachte Tat gewesen zu sein. Nachdem sich viele eine Meinung und ein Urteil darüber gebildet haben, wird sie eine Zeit lang therapiert und dann geht sie wieder nach hause. Die wirklichen, tieferen Beweggründe, die, die der Hilfe wirklich bedürfen, bleiben im Verborgenen. Es wird nur die Oberfläche bearbeitet. Wer kann garantieren, daß sie es nicht wieder tun wird? Ich sage dir: Niemand. Und weißt du warum? Weil Keiner verstanden hat, warum sie dies getan hat und was sie zuvor beschäftigt hielt. Dort muß man ansetzten, dort und nirgends anders." "Wie soll das gehen, wenn sie nicht erzählt, was sie dazu veranlaßt hat? Wenn sie dir keine Details diesbezüglich bekannt gibt, wie willst du denn dann noch mehr Informaion aus ihr heraus bekommen? Dafür müßte man wissen, was sie eine ganz lange Zeit vor ihrer sogenannten Kurzschlußreaktion getan, besser noch, gedacht hat. Sozusagen müßte man wissen, was sie gedanklich beschäftigte."
Nach dieser Unterhaltung mit seinem jüngeren Kollegen, betritt der alte, erfahrene Psychater wieder sein Büro. Langsam läßt er sich auf den weichen Stuhl hinter seinem Schreibtisch nieder. Die junge, erfolgreiche Anwältin läßt ihm keine Ruhe. Er kann das "wieso" nicht verstehen. Auf den ersten Blick war sie nicht die typische Frau, die einfach Dinge tut, ohne darüber nachzudenken. Sie war Anwältin. Ihre Karriere hat sie früh begonnen. Direkt nach ihrem Studium hat sie entscheidende Fälle an Land gezogen und gewonnen. Binnen kurzer Zeit war ihr Name in diesen Kreisen bekannt. Sie hat sich ausführlich mit ihren Klienten auseinander gesetzt und immer auch Extraarbeit geleistet. Ihr war wichtig, daß ihren Klienten Recht geschah und blieb die ganze Zeit ihrem eigenen Gerechtigkeitsempfinden treu, indem sie nur Fälle annahm, bei denen sie der Überzeugung war, daß ihren Klieneten Unrecht wiederfuhr oder diese um ihr tatsächliches Recht kämpften. Nie hätte sie sich des Geldes wegen verbogen. Es tat ihr nicht leid, um den verlorenen Gewinn, der ihren Kollegen zufloß, wenn diese für eine zwielichtige Person ein Streit ausfochten. Sie hätte nie für jemanden, den sie als unehrlich und gehässig empfindet und deren Anliegen in ihren Augen ungerecht sind Anklage geführt oder diesen verteidigt. Sie wollte sich jeden Morgen selbst noch in die Augen schauen können. Von vielen Kollegen wurde sie dafür belächelt, doch ihr war es egal.
Der alte Psychater greift zum Telefon und ruft seinen jungen Kollegen, mit dem er vorhin gesprochen hat, an. "Kannst du mal zu mir ins Büro kommen? Es ist vertraulich." Einige Zeit schon hat er sich Gedanken darüber gemacht, wie er der jungen Anwältin weiter helfen kann. Er kennt sein Fach gut. Viele von denen, die er betreute, leben heute so unauffällig, wie all die anderen Leute. Ein Patient, der nicht mit ihm sprechen will und bei welchem gar kein Ansatz zu fruchten scheint, so etwas gab es bisher so gut wie noch nicht. In seiner ganzen Karriere als Psychater, hatte er nur einen einzigen Patienten, der unter Tränen darum bat, von einem anderen Kollegen betreut zu werden. Der Patient war eine Frau mittleren Alters und es war zu der Zeit, als er sich selbst noch in dieser Altersstufe bewegte. Lange ist dieser Fall schon her. Diese Patientin damals wollte nicht mit ihm sprechen. Eine Kollegin übernahm ihre Betreuung. Später stellte sich heraus, daß sie von dem Freund ihres Bruders vergewaltigt wurde, dem er sehr ähnlich sah.
Es klopft an der schweren Holztür. Der junge Kollege tritt herein. "Komm setz dich!" Stühle werden gerückt. "Ich habe dich her gerufen, weil ich dir etwas anvertrauen möchte." Ein neugiriger, fragender Blick trifft das Gesicht des alten Psychaters. "Ich habe dir doch vorhin von der jungen Anwältin erzählt." "Von der die nicht so richtig mit dir reden möchte." "Ja, genau die. Einmal in meiner ganzen Zeit als Psychater, und daß sind bisher immerhin schon fast vierzig Jahre, hatte ich eine Patientin, die sich mir gegenüber nicht öffnen könnte. Der Grund dafür war, wie sich später heraus stellte, daß sie von jemanden vergewaltigt wurde, der mir optisch sehr ähnlich sah." "Und sie denken, der Anwältin könnte ähnliches widerfahren sein?" "Ich weiß es nicht." Ratlos schüttelt der alte Psychater seinen Kopf. "Es ist eine unbegründete Vermutung meinerseits, der Versuch einer Erklärung für ihr Verhalten. Auf jedenfall wüßte ich nicht, welcher Kollegin ich sie anvertrauen kann." "Was ist mit Frau Rößler?" "Nein, dies ist nicht möglich. Sie ist zu anständig, um sich in einer Grauzone zu bewegen." "In einer Grauzone?" "Ja, Grauzone." Ziemlich verwirrt schaut der junge Psychater ihn an. "Was für eine Grauzone? Und wieso erzählst du mir davon?" "Ich meine nichts schlimmes und ich erzähle dir davon, weil ich dich für geeignet halte." "Geeignet wofür?" "Nicht so hastig, mein junger Kollege." Langsam öffnet er seine Schreibtischschublade und greift hinein. "Du sagtest doch, daß man, um die Handlung der jungen Anwältin, die sogenannten Kurzschußreaktion, um eben diese nachvollziehen zu können, wissen müsse, was sie eine geraume Zeit vor ihrer Tat beschäftigt hat und vor allem, was sie gedanklich, tief im Inneren, bewegte." "Ja." "Könntest du dir vorstellen, der jungen Anwältin zu helfen?" "Gern würde ich es versuchen, aber wie könnte ich in ihr Inners schauen?" Vorsichtig schiebt er das einfache, schwarze Tagebuch mit dem silberfarbenen Schloß zu seinem jungen Kollegen über den Tisch. Dieser ist sichtlich irritiert. "Dies ist ihr altes Tagebuch. Es fehlen einige Seiten darin, doch es hilft dennoch, ihre Gedankenwelt zu ergrunden." "Hat sie es dir gegeben?" Der alte, erfahrene Psychater schweigt. "Wo hast du es her? Daß ist wirklich dunkelste Grauzone." "Möchtest du ihr helfen oder nicht?" Der junge Psychater schweigt. "Dann ließ dieses Tagebuch und versuche sie zum Reden zu bewegen."