Kapitel I - weiße Wände
„Farblos!“ war das Einzige, was ihr durch den Kopf ging, während sie sich in ihrem Raum umsah.
Die Wände weiß, der Boden weiß und sogar die wenigen Möbel waren Weiß.
Im Grunde war sie das Einzige was nicht in den Raum passte.
Sie war zwar blass aber nicht so schneeweiß wie der Raum um sich herum. Allerdings, so vermutete sie, sorgte ihre ebenfalls weiße Kleidung, bestehend aus einer Jogginghose und einem schlichten Baumwollshirt, dafür, dass sie noch heller und bleicher erschien als ohnehin.
Zumindest ihre langen dunkelbraunen Haare brachten etwas Farbe in das trostlose Zimmer. Und selbst wenn sie sich nicht im Spiegel sehen konnte, wusste sie doch, dass auch ihre blau-grünen Augen ein wenig Farbe beisteuerten.
Aber wieder trifteten ihre Gedanken ab, während sie auf das Weiß vor sich starrte.
Die Tabletten hatten sie schläfrig gemacht. Ruhig gestellt.
Sie konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, ob sie farbig waren oder ebenfalls so weiß wie der Raum. Sie wusste nicht einmal mehr, wie viele man ihr verabreicht hatte.
Es kam ihr so vor, als hätte sie jegliche Erinnerung verloren. Als habe man ihren Geist lahm gelegt.
Nur wusste sie nicht warum.
Und wenige Minuten später war ihr dies auch egal. Die Wirkung der Tabletten setzte ein und alles um sie herum verlor jeglichen Reiz. Selbst die eigenen Gedanken.
Und so verlor sie sich wieder in dem weißen und stillen Raum.
„Wir mussten die Dosis erhöhen!“ erklärte eine ältere Schwester, während ihr Gesprächspartner angestrengt einige Papiere auf seinem Schreibtisch durch sah.
Für einen kurzen Augenblick glaubte die Schwester, der Mann hätte sie nicht gehört und so wollte sie ihren Bericht wiederholen.
Doch der Mann sah auf. Seine Miene zeigte nicht das geringste Interesse, so als ginge ihn die ganze Sache nichts an.
„Es wird immer schlimmer!“ meinte die Schwester und hielt ihm einen Patientenbericht entgegen.
Der Mann nahm ihn, überflog die hastig dahin geschmierten Notizen und gab den Bericht zurück.
„Wie geht es ihr jetzt?“ wollte er nur wissen. Selbst in seiner Stimme klang die Langeweile mit.
Der Fall schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Es war für ihn ein Fall wie jeder andere.
„Wir konnten sie ruhig stellen, aber …!“
Der Mann bedeutete, dass sie nicht weiter zu reden brauchte. Er stand auf, nahm seinen weißen Kittel von der Stuhllehne und zog ihn sich über.
Ohne ein weiteres Wort zu der Schwester, ging er an ihr vorbei und verließ sein Büro. Zum ersten Mal an diesem Tag.
Im Grunde hatte er besseres zu tun, als sich schon wieder mit einem Irren auseinander zu setzten.
Einzig der Kittel unterschied ihn von den Leuten auf dem Gang und in dem großen Aufenthaltsraum, der einem riesigen Wohn- und Spielzimmer glich. Die meisten der Leute, die sich hier aufhielten waren soweit klaren Verstandes, dass sie ihn grüßten und sich sogar wie normale gesunde Menschen verhielten. Allerdings gab es auch einige Fälle, die wie gehirnlose Zombies wirkten, den Kopf schief gelegt und in die Ferne starrend, während ihnen der Speichel aus dem Mund lief.
Er beachtete sie nicht. Fühlte sich für sie nicht zuständig.
Die Schwester folgte ihm, wortlos. Aber sie schien Anteil an den Patienten ringsum zu nehmen. Ein oder zweimal fiel ihr Blick auf einen der ruhig gestellten und geistig abwesenden Bewohner und es juckte sie in den Fingern, hinzugehen und ihnen den Mund abzuwischen oder sie in eine bequemer hinzusetzen.
Der Mann stoppte an dem Zimmer mit der Nummer 0804. Davor stand ein Stuhl und darauf waren ein Zeichenblock und bunte Stifte, die man zuvor aus dem Zimmer entfernt hatte.
„Wir mussten ihr die Sachen wegnehmen!“ beteuerte die Schwester, „Sie hat sich so aufgeregt!“
Der Mann nickte nur und sah durch das kleine Fenster in der Tür.
Er konnte ein Mädchen erkennen, welches auf dem am Boden verschraubten Bett saß und abwesend auf die Wand ihr gegenüber starrte.
Er ließ sich noch einmal den Patientenbericht geben, studierte erneut die Medikation und warf einen prüfenden Blick in den Raum.
Kurz zuckten seine Mundwinkel. Aber er schwieg.
Er drückte der Schwester sofort den Bericht wieder in die Hände und besah sich den Zeichenblock. Er achtete nicht auf die Stifte, die sofort zu Boden fielen und über den Boden rollten.
Und während die Schwester die Stifte wieder einsammelte, blätterte er durch die Zeichnungen.
Dabei wurde seine Miene immer finsterer.
„Morgen früh, noch vor der ersten Medikation, will ich sie sehen!“ brummte er die Schwester an und ging mit dem Zeichenblock unter dem Arm zurück zu seinem Büro.
Die Schwester sah ihm irritiert nach, legte die Stifte wieder sorgsam auf den Stuhl ab und nachdem sie noch einmal einen kurzen Blick in den Raum geworfen hatte, ging auch sie wieder ihrer eigentlichen Arbeit nach und kümmerte sich um die anderen Patienten.
Die Zeit verging wie im Flug, war ihr erster klarer Gedanke.
Sie konnte sich lediglich daran erinnern, dass sie sich über irgendetwas aufgeregt hatte. Sie hatte so wild getobt und geschrien, dass man ihr anstatt der üblichen Pillen gleich noch eine Spritze verpasst hatte. Dabei war man alles andere als sanft mit ihr umgegangen und noch immer schmerzte ihr Arm so, als habe man ihn versucht ihr abzureißen.
Sie hatte sich gerade aufgesetzt, als auch schon ihre Tür aufging. Zwei bullige Herren in mintgrünen Anzügen, die ihrem ein wenig ähnelten, traten ein und zogen sie unsanft auf die Beine.
„Der Doc will dich sehen!“ erklärte einer nur kurz.
Sie antwortete nicht, sondern versuchte mit den beiden Männern schritt zu halten, die sie an den Armen hielten, als hätten sie Angst, dass sie ihnen unterwegs verloren ging.
Jetzt, da sie wieder bei Bewusstsein war, bemerkte sie wie kalt der weiße Steinboden war. Die Schuhe hatte man ihr vor langem schon abgenommen. Im Grunde hatte man ihr lediglich das Shirt und die Hose gelassen. Wohl notwendigerweise, da man nicht wollte, dass sie vollkommen nackt umher ging. Obwohl von umher gehen keine Rede sein konnte, da man sie die meiste Zeit in ihrem Raum einsperrte.
Ihre einzigen Freigänge, wenn man sie den so bezeichnen konnte, waren ihre Therapiebesuche in der Gruppe, bei der jeder sein Problem vortragen sollte und ein jeder irgendeinen Kommentar dazu abgeben konnte. Ob passend oder nicht. Sie selbst hatte irgendwann aufgehört irgendetwas in der Therapiegruppe zu erzählen, nachdem man sie zum dritten oder vierten Mal aus der Sitzung gezerrt und mit Medikamenten ruhig gestellt hatte, da sie die anderen Patienten nur verstöre.
Ihr zweiter Freigang war, wie es eben jetzt der Fall war, wenn einer der Ärzte persönlich mit ihr reden wollte. Allerdings sprach er da nie allein mit ihr. Seit einem Wutausbruch, bei dem sie versucht hatte, den Arzt zu verprügeln, waren immer gleich zwei Pfleger mit im Raum.
Wieder brachte man sie zu Doktor A. Peeker. Sie mochte ihn nicht, was nicht erst seit ihrem Angriff auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien.
Doktor Peeker wirkte viel mehr wie ein Anwalt oder vielleicht auch wie ein Buchhalter. Stets in feinen Anzügen und mit gepflegten Haarschnitt. Lediglich wenn er seinen Kittel über gezogen hatte, erkannte man ihn auch als Arzt. Doch dieser hing, wie so oft über der Rückenlehne seines Stuhles.
„Setz dich!“ schimpfte er sogleich. Wie immer war er schlecht gelaunt. Sie hatte ihn noch nie in anderer Stimmung angetroffen.
Unsanft drängten sie die beiden Pfleger auf den Stuhl, der dem Bürostuhl des Doktors gegenüberstand.
Sie wartete. Die beiden Kerle neben sich stehend, konnte sie nichts anderes tun. Und die Zunge war ihr noch ein wenig schwer, nach dem letzten Medikamentencocktail, den man ihr verabreicht hatte.
Doktor Peeker sah auf ein Stück Papier, welches vor sich auf dem Tisch lag, studierte es kurz. Allerdings wirkte es so, als wolle er noch einmal überprüfen, was er ohnehin schon wusste. Es war seine Art, immer die Akten zu studieren, obwohl er sie längst auswendig kannte.
Jetzt da die Medikamente ihre Wirkung verloren hatten und sie wieder klare Gedanken fassen konnte, keimte in ihr die Ungeduld. Sie wollte endlich wissen, weswegen sie nun schon wieder beim Doktor vorgeladen worden war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie außer dem Ausbruch am vergangenen Tag, irgendetwas getan hätte, was ihn dazu veranlasste, sie außerhalb der normalen Treffen zu sehen.
„Was war gestern los?“ wollte er wissen und sah ihr mit bohrendem Blick in die Augen.
Beide hatten sich nun schon so oft gegenüber gesessen, dass sie seine Art und Weise längst kannte und er ihr im Grunde keine Angst mehr machte.
„Nichts!“ kam ihr kaum hörbar über die Lippen. Noch immer fühlte sich ihre Zunge halb taub an und ihr war flau im Magen, da sie neben dem Abendbrot nun auch noch das Frühstück verpasste.
„Nichts?“ wiederholte er grimmig.
„Sie hat versucht mich mit einem ihrer Stift anzugreifen!“ meldete sich einer der Pfleger zu Wort und zeigte auf einen Kratzer am linken Arm.
Sie sah den Mann irritiert an. Daran konnte sie sich gar nicht mehr erinnern.
Dann wanderte ihr Blick wieder zu Doktor Peeker, der über die Aussage des Pflegers keinen Kommentar machte. Er zeigte nicht das geringste Interesse daran.
Sein Blick bohrte sich noch immer in die Augen seines Gegenübers, so als versuche er ihr die Gedanken aus dem Kopf zu ziehen.
„Was war der Grund, für deine Ausbruch!“ wiederholte er langsam und zog unter der Akte, die er zuvor noch studiert hatte, einen Zeichenblock hervor.
Sie wollte nicht antworten. Zum Teil, weil sie sich nicht mehr sicher war, weswegen sie getobt hatte. Zum anderen, war es egal, was sie ihm sagen würde. Er kannte längst ihre Antwort.
„Wir haben darüber geredet!“ Für einen kurzen Moment klang er, als versuche er ruhig auf sie einzureden. So als sei er ein guter Freund.
Nur seine Augen zeigten, dass er alles andere als ihr Freund sein wollte.
Er schlug den Zeichenblock auf und hielt ihn hoch.
Farben. Wild und durcheinander, so als habe man die Stifte ausprobiert.
Und mitten in dem bunten Chaos deutlich ein Gesicht.
Ein junger Mann, mit traurigem Blick.
„Chance!“ kam leise über ihre Lippen.
Dennoch hatte der Doktor sie gehört und sah sie wieder finster an.
„Wer?“ wollte er wissen. Er hatte ihr diese Frage so oft gestellt, dass er längst wusste, wer oder was Chance war. Oder sein sollte.
„Chance Moore, mein Bruder!“ Sie versuchte stark zu klingen, selbst wenn sie noch immer leicht benommen war und vermutlich wie ein schlaftrunkener Alkoholiker nach einer durchzechten Nacht klang.
Doktor Peeker drehte die Zeichnung zu sich, beäugte sie kurz und riss sie aus dem Block.
Mit großem Entsetzten musste sie nun mit ansehen, wie der Arzt das Bild zerknüllte und in den Papierkorb neben seinen Schreibtisch fallen lies.
Sie war aufgesprungen, noch ehe sie sich dessen bewusst war. Aber weit kam sie nicht. Sofort hatten die beiden Pfleger, rechts und links von ihr, sie wieder unsanft auf den Stuhl zurück gedrückt.
Der Doktor hielt ihr die nächste bunte Zeichnung vors Gesicht. Leider nicht nahe genug, sodass sie hätte den Zeichenblock an sich reißen und die Bilder vor ihrer Vernichtung hätte retten können.
Bei jeder Zeichnung, fragte der Arzt, wer oder was auf dem Bild zu sehen war. Und immer wieder, riss er das Bild, nachdem sie geantwortet hatte, aus dem Block und warf es zerknüllt in den Papierkorb.
Die meisten Bilder waren Portraits gewesen. Von Familie und Freunden. Und auch von einigen Fremden, bei denen sie sich noch nicht einmal sicher war, sie jemals getroffen zu haben.
„Das sind alles nur Hirngespinste!“ meinte Doktor Peeker plötzlich. Und auch wenn er nicht das erste Mal ihre Zeichnungen vernichtet hatte und diese nun nicht wirklich ärztliche Meinung verkündete, war sie entsetzt.
„Dein Bruder Chance und all die anderen Leute ...“ begann er, „... sie sind nicht real!“
Auch dies hatte er ihr mehrfach gesagt.
„Es wird Zeit, dass du aufwachst und erkennst, was Wirklichkeit ist!“
Ihr Blick fiel auf das zerknüllte Papier in dem Mülleimer. Noch immer wollte sie die Zeichnung wieder an sich reißen. Doch sie wusste, dass weder der Doktor noch die beiden Kerle neben ihr dies zulassen würde.
„Du bist allein!“
Ihr Blick richtete sich wieder auf den Arzt ihr gegenüber.
„Nein!“ Ihr Mund war schneller als ihr Verstand. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr erklärte, dass sie allein war und sich ihre Familie und ihre Freunde nur ausgedacht hatte. Und es war auch nicht das erste Mal, dass sie ihm daraufhin so trotzig antwortete.
„Chance ist real! Er ist mein Bruder!“ fauchte sie ihn an und konnte sofort zwei starke Hände auf ihren Schultern spüren, die sie auf den Stuhl drückten.
„Und meine Freunde sind real!“ Sie wurde lauter.
„Und das hier ...“ sie wies um sich und dann auf ihr Gegenüber, „Das hier ist ein beschissener Alptraum!“
Doktor Peeker sah sie nur finster an. Keine weitere Gemütsregung war zu erkennen.
Dann richtete er sich an die beiden Pfleger.
„Bringt sie zurück in ihr Zimmer! Sie wird ohne ihr Frühstück auskommen müssen!“
Die beiden Männer packten sie wieder unter den Armen und zogen sie vom Stuhl, ehe sie auch nur ein Wort sagen konnte.
„Ich will nach hause!“ schrie sie, während die Pfleger sie über den Flur zurück zu ihrem Zimmer zerrten.
Einige der anderen Patienten sahen ihnen leicht verschlafen und irritiert nach.
„Das ist nicht real!“ wiederholte sie immer wieder und versuchte sich aus dem Klammergriff der beiden Männer zu befreien.
Noch ehe man sie wieder in ihr Zimmer gesperrt hatte, war die Schwester vom Abend aufgetaucht. Wieder hielt sie eine Spritze in der Hand, die man ihr sofort in den Arm stach.
Dann stieß man sie unsanft in das Zimmer, verschloss die Tür und lies sie einfach toben.
Es würde nicht lange dauern und das Beruhigungsmittel würde wieder anschlagen und sie in einen gedankenlosen Zombie verwandeln.
So sehr sie auch gegen die Tür schlug und schrie, es änderte nichts an der Tatsache, dass sie in dem kalten weißen Raum gefangen war.
Und allmählich setzte die Wirkung der Spritze ein.
Ihre Kräfte verließen sie und sie fiel einfach zu Boden.
„Ich will nach hause!“ kam schwach über ihre Lippen und ehe sie wieder ganz in ihrer Geistlosigkeit versank, war es als könne sie noch einmal das traurige Gesicht ihres Bruders sehen.
Doktor Peeker hatte einen Vermerk in der Krankenakte gemacht und griff zum Telefon.
Die Nummer, die er wählte kannte er bereits im Schlaf.
Und noch ehe sich jemand am anderen Ende meldete, gab er einen kurzen Befehl.
„Fangt an!“