Dumme Nazi-Vergleiche: Nein, Ihr seit nicht Sophie Scholl!"Ja, hallo, ich bin Jana aus Kassel, und ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde."
Mit diesen Worten stellte sich eine junge Frau im November 2020 in Hannover auf einer Demo gegen die Pandemiemaßnahmen der deutschen Regierung vor. Sie sei im gleichen Alter wie die NS-Widerstandskämpferin, als sie 1943 von den Nazis festgenommen wurde. Der Auftritt, der vereinzelt mit Applaus aus dem Publikum bedacht wurde, sorgte im Nachgang für heftige Kritik. Eine deutliche Gegenstimme setzte ein Ordner, der vor die Bühne trat und aus Protest gegen den Vergleich seinen Dienst für die Demonstration quittierte und der Rednerin sein Ordnerleibchen übergeben wollte, woraufhin diese schließlich weinend vom Podium stürmte. Später trat sie ein weitere Mal ans Mikrofon, äußerte Unverständnis über die Kritik und wiederholte den Vergleich.
Der Ordner: "Für so einen Schwachsinn mache ich doch keinen Ordner mehr! Das ist Verharmlosung vom Holocaust!"Videos des Auftritts verbreiteten sich schnell auf sozialen Medien, insbesondere Twitter. In den Reaktionen wurde mit großer Mehrheit Kritik an dem Vergleich geübt. Die Verhältnisse im "Dritten Reich" und Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Coronavirus-Pandemie auf eine Stufe zu stellen, sei absolut unangemessen.
Kurzabriss: Wer war Sophie Scholl?Sophie Scholl ist eines der bekanntesten Mitglieder der Weißen Rose, einer Gruppe, die sich dem Naziregime und seiner Propaganda widersetzt hat. Die Studentin und ehemalige Kindergärtnerin war einst selbst Anhängerin der Nationalsozialisten und aktiv in der Jugendorganisation Bund Deutscher Mädel, begann aber, geprägt durch evangelische Schriften und andere Einflüsse, Anfang der 1940er, eine zunehmend kritische Haltung gegenüber der Ideologie zu entwickeln.
1942 gelangte sie in Kontakt mit der Widerstandsgruppe, für die sie Flugblätter verbreitete und später auch selbst an deren Erstellung mitwirkte. Am 18. Februar 1943 wurden Sophie und ihr Bruder Hans an der Kunstuniversität München von einem der SA zugehörigen Hörsaaldiener bei einer Aktion ertappt und gemeldet. Vier Tage lang wurden die beiden verhört, wobei sie sich zum Schutz der anderen Mitglieder als Köpfe der Weißen Rose darstellten. Am 22. Februar wurden sie, gemeinsam mit einem weiteren Widerstandskämpfer namens Christoph Probst, wegen "Hochverrats und Feindbegünstigung" verurteilt und mit der Guillotine hingerichtet.
Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Sophie Scholl wurden nach dem Ende der Naziherrschaft bekannt. Nach ihr sind heute mehrere Schulen und Kindergärten und verschiedene Plätze benannt.
Warum gerade Sophie Scholl?Auch weniger gut informierte Menschen wissen, wer Sophie Scholl ist. Wenigstens grob.
Sie ist eine Symbolfigur für den Kampf gegen Unterdrückung durch den Staat. Das wirke zusammen mit der Identifikation mit den jungen, sympathischen Studenten.
Warum passt der Vergleich nicht?Im selben Atemzug wird auch gern von der "Corora-Diktatur" gesprochen. Jetzt, wo natürlich - auch bei deutlich höherer Inzidenz - Schulen offen bleiben, die Maskenpflicht suksessive abgeschafft wird und alles zur Normalität zurückkehrt, ist der Begriff altbacken und nicht mehr griffig. Aber vor gerade einmal 2 Jahren war er überall zu lesen und zu hören.
Die Querdenker - ein weiterer Begriff aus dieser Zeit - versuchen so ganz bewusst, die eigene Position zu legitimieren und die staatliche Position zu delegitimieren. "Sie leisten dem Geschichtsrevisionismus mit geschmacklosen und ahistorischen NS-Gleichsetzungen Vorschub und delegitimieren zugleich unsere Demokratie, deren Schutz der Grundrechte eine explizite Lehre aus dem Nationalsozialismus ist", sagt Historiker Jens-Christian Wagner.
Die Instrumentalisierung der Weißen Rose und insbesondere von Sophie Scholl ist nicht neu.
Hinzu kommt ein angebliches Zitat von Sophie Scholl, das auf Demo-Schildern der Querdenken-Bewegung häufig zu sehen ist. "Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit, die sich fügt und alles mitmacht", soll Scholl gesagt haben. Laut dem Philosophen Gerald Krieghofer, der einen Blog zur Zitatforschung betreibt, sei der Begriff "schweigende Mehrheit" erst durch eine Rede Richard Nixons bekannt geworden. Vor dem Jahr 1945 sei der Begriff im deutschen Sprachraum unbekannt gewesen. Es handelt sich bei dem Ausspruch um ein sogenanntes Kuckuckszitat, also eine frei erfundene Zuschreibung.
Es bleibt dabei:Nicht jeder der Hunger hat, verbrüdert sich mit Mahatma Gandhi im Hungerstreik.
Nicht jeder der Sklaverei doof findet, kann sich mit Abraham Lincoln vergleichen.
Es ist ein bisschen so, als wolle man gerade einen neuen Flachwitz im Internet herumreichen.
Der Vergleich den Jana aus Kassel hier zieht - den alle NS-Vergleichsdussel ziehen - ist natürlich absurd.
Sophie Scholl konnte keine Versammlung anmelden. Sie hat auch keine Ordner gestellt bekommen oder einen Platz für ihre Ansprache.
Sophie Scholl konnte nicht einfach so ihre Flyer verteilen. Wenn der Falsche sie in die Hände bekommt, bedeutet das Hochverrat.
Sophie Scholl konnte keine öffentlichen Reden halten. Jana kann das.
Sophie Scholl lebte in der Diktatur, die Kritik bis auf's Äußerste bestraft hat. Jana lebt in einer Demokratie, wo Kritik Teil der öffentlichen Debatte ist.
Sophie Scholl wurde für ihr Engagement ermordet. Jana hat einen Shitstorm ausgelöst. Das ist doof, aber nicht tötlich.
Sophie Scholl hat das Ende der Diktatur nicht mehr erlebt. Jana wird jetzt immer noch irgendwo rumwatscheln und sieht persönlich, dass wir nun wieder deutlich mehr Freiheiten haben, als am Anfang der Pandemie.
Und das ist verständlich. Viele Vorsichtsmaßnahmen, die am Beginn standen, wurden aus Vorsicht getroffen. Daher ja der Name. Niemand wusste, wie schnell sich das Virus verbreiten wird, wie heftig es ist und wie wir es aufhalten können. Aber das Tragen von Masken und dann später das Impfen gegen dieses Virus sind mit keiner einzigen Silbe vergleichbar mit der Terrorherrschaft der Nazis, die zum Zeitpunkt von Sophies Tod halb Europa unterjocht und in mehreren Konzentrationslagern bereits abertausende Juden, Systemkritiker, körperlich und geistig Eingeschränke und Andersdenkende in Tötungsfabriken hingerichtet haben. Dieses Regime richtete Ghettos in eroberten Ostgebieten ein und schnitt die dort lebende Bevölkerung von Strom, ausreichend Wasser und Nahrung ab. Jede Andeutung einer anderen Gesinnung konnte bereits dazu führen, dass man als Desserteur oder Kollaborateur von Widerstandgruppen verhämt wurde und die entsprechende Strafe erhielt, Zuchthaus oder Tod.
Das alles trifft auf unser heutiges System nicht zu.
Die Volksvertreter werden in geheimen, aber öffentlich zugänglichen Wahlen gewählt. Es gibt eine Opposition, einen Diskurs im Bundestag und auch außerhalb. Es gibt das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Und es werden Sicherheitskräfte gestellt, damit etwaige Ausschreitungen für und wider der Demonstranten eingedämmt werden können.
Jana aus Kassel hat diesen Schutz bei ihrer Rede erfahren. Der Ordner, der seinen Dienst quittiert, zeigt deutlich, dass er zuvor, wie seine Kollegen zum Dienst für den Schutz der Redner eingeteilt wurde.
Jana konnte nach ihrer Rede einfach nach Hause gehen und sich eine Tasse Tee oder einen Whiskey gönnen. Sophie Scholl kam in eine Gewahrsamzelle und wurde stundenlang verhört.
Sophie Scholl wusste um das Risiko, dass jede der Aktionen trägt.
Jana konnte nicht einmal der berechtigten Kritik eines einzelnen Ordners standhalten.
Nichts, aber auch gar nichts stimmt an diesem Vergleich:
Nein, Ihr seit nicht Sophie Scholl!P.S.: Wie so viele meiner Texte, wurde er irgendwann angefangen und neuere Projekte überlagerten ihn. Die ersten Zeilen waren bereits im Dezember 2020 geschrieben. Bin per Zufall drauf gestoßen und habe ihn gestern in einem Rutsch vollendet (bzw. 90 % des Textes verfasst). Deswegen erst so spät.