Kapitel XLI
Manchmal dachte er an die alten Zeiten zurück. Sie waren mehr oder weniger besser. Weniger chaotisch und vor allem viel ruhiger.
Aber auch die Ereignisse der letzten Tage waren der Grund dafür, dass er sich die alten Zeiten zurück wünschte.
In den letzten dreißig Jahren waren immer mehr Leute in seinem Dorf aufgetaucht. Einfach so, fast aus dem Nirgendwo. Und in den letzten Monaten waren es immer mehr geworden.
Irgendwie war dies erst so chaotisch geworden, nachdem Matt ihm das Geschwisterpaar geschickt hatte. Es war, als würden alle fremden Besucher auf der Suche nach den beiden. Als würden sie ihnen folgen.
Jeder andere hätte den Grund hierfür weder bemerkt noch wirklich für voll genommen. Er aber ahnte es. Denn auch er hatte es gespürt.
Die magische Kraft der Schlüssel, die beiden Geschwistern inne wohnte. Vor allem aber dem Mädchen.
Doch nun war es nicht mehr die alte verblasste Spur des Paares, die die Schlüsselreisenden anlockte.
Nun verfolgte sie ihn.
In seinem sonst so ruhigen Dorf waren plötzlich acht Reisende auf einmal aufgetaucht. Zwar waren sie nicht gemeinsam gekommen, aber sie verfolgten doch alle das selbe Ziel.
Zielstrebig kamen sie auf ihn zu. Wirkten im ersten Moment ein klein wenig verwundert.
„Das soll´s sein?“ murmelte einer der Fremden und sah den alten Mann, ihm gegenüber irritiert an.
Für die anderen war er auch nichts weiter als ein alter gebrechlicher Mann.
„Er hat einen Schlüssel!“ kam von einem anderen.
Und wieder jemand sagte etwas in einer ihm fremden Sprache. Aber vermutlich war auch er überzeugt davon, dass der alte Mann irgendwelche Schlüssel besäße.
Damit hatte der alte Mann zwar gerechnet, doch er hatte gehofft, dass dies nicht wirklich passieren würde.
Die Schlüsseljäger waren da und nun würden sie ihn überfallen.
Er tat unwissend und versuchte seinen Weg durch das Dorf fortzusetzen. Seine größte Sorge galt vor allem seinen Freunden, die er hier gewonnen hatten und die nichts von seinen Fähigkeiten und Geheimnissen wussten. Sie sollten nicht seinetwegen zu schaden kommen.
Die Fremden folgten ihm, laut schimpfend, dass er ihnen doch freiwillig seine Schlüssel überlassen solle. Doch er wollte niemanden seine Schlüssel überlassen.
Einer der fremden Kerle packte den alten Mann am Arm und hielt ihn fest. Noch einmal wiederholte er seine Drohung.
„Aber ich weiß nicht, was ihr wollt!“ stellte sich der alte Mann dumm.
„Du hast eine Menge Schlüssel einstecken!“ gab der Fremde zu verstehen, „Ich kann die Magie förmlich riechen!“
Dass man die Magie nicht wirklich riechen konnte, wollte der Alte ihm nicht unbedingt auf die Nase binden.
„Ich habe nur den Schlüssel hier!“ stellte sich der alte Mann dumm und hielt seinen messingfarbenen Hausschlüssel hoch.
Sein Angreifer und auch die anderen ließen sich aber nicht überzeugen. Zwar glaubten sie noch immer, dass er vielleicht wirklich nur ein dummer unwissender alter Mann war, der zufällig eine Schlüsselkarte bei sich trug und nicht wusste worum es ging. Aber das hinderte sie nicht daran, dass sie nicht vorsichtiger mit ihm umgingen.
„Ich will die Schlüsselkarten!“ knurrte der Fremde und packte den Alten fester am Arm.
Ein Schmunzeln zuckte über das Gesicht des Alten.
„Du hast keine Ahnung, was genau du suchst!“
Für einen alten Mann hatte er sehr viel Kraft, wie der Fremde feststellen musste. Der Alte befreite sich aus dem Griff seines Angreifers und stieß ihn von sich.
Egal wie stark der Alte sein musste, dumm war er nicht. Er stellte sich nicht den anderen entgegen. Er lief davon. Auch ungewöhnlich schnell für einen alten Mann. Zumindest schneller, als man es von ihm hätte erwartet.
Während sich die Reisenden noch für einen Moment fragten, ob sie gerade versucht hatten einen ehemaligen Sprinter oder Kampfsportler oder dergleichen anzugreifen, hatten die Dorfbewohner besorgt zugesehen, wie ihr alter Freund angegriffen wurde. Doch ausrichten konnten auch sie nicht viel. Sie hatten aber zumindest die Polizei gerufen, wenngleich die wohl noch eine Weile auf sich warten lies.
Der Plan des Alten ging irgendwie auf. Die Fremden folgten ihm.
Es war als hätte er einen Magneten bei sich und zöge sie an. Ihre Schlüssel der eine Magnet und seine der andere.
„Alter, bleib endlich stehen!“ schrie ihm einer hinterher.
Doch noch immer dachte der Verfolgte nicht daran. Er wusste, dass er großes Glück hatte, dass sie keine Schusswaffen bei sich trugen. Doch er wusste nicht, wie lange ihm dieses Glück wohl noch gewogen sein würde.
Für einen Moment hatte er sie abgehängt.
Er hatte sie aus dem Dorf gelockt und stand nun auf einer sandigen Fläche und wartete auf die Fremden.
Und als sie ihn fanden, angezogen von seiner Schlüsselmagie, stand er noch immer wartend da, während sie grinsend näher kamen.
„Kannst wohl nicht mehr weglaufen!“ meinte einer schnaufend.
„Und du kommst auch nicht mehr weit!“ antwortete ihm der Alte nur grinsend.
Doch sein Gegner verstand nicht, was er damit meinte.
„Eigentlich schade,“ seufzte der Alte, „war schön hier!“
„Deine Schlüssel!“ knurrte ein anderer Reisender und trat näher heran.
Der alte Mann schüttelte nur den Kopf.
„Kein Schlüssel nutzt dir jetzt noch was!“ meinte er nur.
„Was?“
„Die Magie … ist fort!“ Der Alte schien sich über ihn und die anderen lustig zu machen.
Doch dann merkten es die Reisenden. Irgendwie war es, als hätte man ihnen etwas weggenommen. Das sonderbare Gefühl, was sie hier her geführt hatte, war verschwunden. Der Magnet war weg.
„Ich wünsch euch noch viel Spaß hier!“ meinte der Alte.
In der Ferne war eine Polizeisirene zu hören.
„Du kommst nicht weg!“ drohte man dem Alten. Doch der wies nur kurz mit einem Blick auf den Boden zu seinen Füßen.
Ein Viereck war in den Sand gezogen, in dem der alte Mann stand.
Noch einmal schmunzelte der Alte und bevor der Polizeiwagen den Ort erreicht hatte, öffnete sich der Boden, fast wie eine Falltür und der Alte verschwand.
„Scheiße, was war das?“ fluchte einer der Angreifer und schritt ebenfalls in das Viereck. Doch nichts tat sich. Es war nur ein Viereck im Sand und von dem Alten keine Spur.
Erst viel später würden sie mitbekommen, dass all ihre Schlüsselkarten unbrauchbar waren, so wie der alte Mann es ihnen gesagt hatte. Nur wussten sie nicht, wie das geschehen konnte. Sie wussten noch nicht einmal, wem sie gegenüber gestanden hatten.
Der alte Mann allerdings war weder verwirrt darüber, dass die Schlüssel seiner Jäger unbrauchbar waren noch überrascht. Vielmehr ärgerte es ihn, dass er nun aus seinem Zuhause hatte fliehen müssen.
Was er nun tun sollte, wusste er nicht so recht.
Als er in einem großen Glasfenster in der Stadt, in der er soeben gelandet war, vorbei lief, bemerkte er, dass er nicht mehr der alte Mann von eben war. Er sah nun nicht mehr aus, wie ein knapp Siebzigjähriger. Er hatte nun knapp zwanzig Jahre seiner Jugend zurück gewonnen.
„Hm …“ meinte er leicht überrascht zu sich, „Dann eben nicht mehr Bastiano!“
Er würde nun seinen Namen wieder ablegen, so wie er seine italienische Heimat hinter sich lies. Zumindest so lange, wie es dauern würde das Chaos zu beseitigen, hoffte er.
Gemeinsam hatten sie den alten Mann ins Wohnzimmer getragen und auf die Couch gelegt. Noch immer war er nicht bei Bewusstsein und Meryl kümmerte sich um die sichtbaren Verletzungen, während ihr Bruder Richard finster drein blickend in dem Sessel neben ihr saß.
Er hatte fliehen wollen, doch seine Schwester hatte darauf bestanden bei dem Fremden zu bleiben in der Hoffnung, dass sie irgendwie etwas über ihre Kinder erfahren würden.
„Du glaubst ihm die ganze komische Geschichte?“ wollte Richard von seiner Schwester wissen. Er wollte es nicht wahrhaben, obwohl er doch selbst einiges davon miterlebt hatte.
Meryl antwortete ihm nicht. Sie kümmerte sich um ihren Patienten.
Allerdings gab es auch nichts, was sie wirklich hätte antworten können.
„Ich meine, warum will er uns … retten, oder was auch immer? Und woher kennt er Evangeline?“
„Ich weiß es nicht!“ kam von Meryl. Sie hatte keine Lust sich mit ihrem Bruder zu streiten.
Doch er hingegen schien einem Streit nicht abgeneigt.
„Der Kerl ist irgendein Verrückter und erzählt irgendwas von Magie und Zauberschlüsseln und du nimmst das für voll!“ protestierte er, „Ich meine, vielleicht ist er ja der Killer von ihr! Und vielleicht hat er sich den ganzen Scheiß nur ausgedacht, um uns zu verarschen!“
„Sei still!“ gab seine Schwester endlich zurück, „Er hat nicht gelogen!“
Richard sah sie zornig und irritiert zugleich an.
„Jim hat mir mal so eine Geschichte erzählt!“ meinte sie dann, wollte aber nicht näher darauf eingehen.
Ein merkwürdiges Geräusch, ähnlich einem Seufzer, kam von Keys und er öffnete endlich die Augen.
„Es tut mir leid!“
Meryl und Richard sahen ihn fragend an.
„Es ist meine Schuld!“ meinte Keys und versuchte sich aufzusetzen, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. Dafür hatte er zu große Schmerzen.
„Ich hätte es verhindern müssen!“
„Was verhindern?“ wollte Meryl wissen. Das interessierte auch ihren Bruder.
„Die Schlüssel … sie ziehen sich gegenseitig an.“ Keys holte tief Luft, ehe er weiter sprach. Alles tat ihm weh. „Und es wird immer schlimmer!“
„Ich versteh noch immer nichts von dem ganzen Unsinn!“ beschwerte sich Richard.
„Es ist alles meine Schuld! Ich hätte das alles verhindern müssen.“ kam zusammenhanglos von Keys, „Ich hätte aufpassen müssen, dass niemand die Schlüssel nimmt. Ich hätte sie gleich am Anfang vernichten sollen. Dann wäre das ganze Chaos nie passiert!“
Richard sah erst zu Meryl, die ebenfalls nichts von dem ganzen verstand, und dann zu dem alten Mann.
„Die Magie der Schlüssel wird immer schwächer und darum ziehen sie sich an. Sie vernichten sich gegenseitig.“
„Was?“
Keys sah Meryl erst an.
„Die Schlüssel entziehen sich gegenseitig die Magie. Sie versuchen zu … überleben!“ meinte er und klang dabei selbst ein wenig irritiert darüber, was er redete.
„Überleben?“ wiederholte Richard, „Ich denke, dass sind … Karten?“
Irgendwie wurde die ganze Story nur noch verwirrender.
„Die Magie der Karte kann entzogen und auf eine andere übertragen werden!“ kam von Keys etwas klarer.
„Dann wird die Magie der einen Karte stärker?“ wollte Meryl wissen.
Keys versuchte zu nicken, was allerdings keine gute Idee war, da ihm der Schädel brummte.
„Man kann damit einen ziemlich starken Schlüssel schaffen!“ versicherte er ihr.
„Aber ich denke, die suchen alle nach dem … komischen … ersten Schlüssel! Wenn sie einen starken Schlüssel schaffen können, wozu brauchen die dann den ersten?“ hinterfragte Richard.
„Der erste Schlüssel ist der stärkste von allen und er kann allen anderen die Magie entziehen!“
Keys seufzte noch einmal.
„Ich hätte es nie soweit kommen lassen sollen!“ murmelte er erneut, „Es ist alles meine Schuld!“
Dann schloss er wieder die Augen und war recht schnell eingeschlafen.
Richard und Meryl hatten rein gar nichts von ganzen Geschichte verstanden.
Kayleigh saß noch immer in der Küchenecke und hielt nachdenklich das Buch in der Hand. Die Geschichte, die aufgetaucht war, hatte ihr ein paar ihrer Erinnerungen zurück gebracht. Wozu auch immer!
Sie fragte sich, woher das Buch soviel über sie wissen konnte, wenn sie selbst das meiste davon doch schon vergessen bzw. verdrängt hatte. Und dann war da noch die irritierende Frage, wie das mit der Originalgeschichte zusammenhängen könnte, die sie herausfinden sollten.
Wer war eigentlich auf die sonderbare Idee gekommen, dass sie irgendwie eine Geschichte aus dem Buch herausbekommen sollten, wenn dieses doch ganz gerne seine eigenen Text schrieb und veränderte.
„Ich wünschte, du würdest endlich mal Klartext reden!“ seufzte Kayleigh und blätterte in dem Buch.
Die ersten Seiten zeigten einen angefangenen Stammbaum, beginnend mit Thomas Learmont, bei dem lediglich das Geburtsjahr vermerkt war. Von seinem Namen führte ein Strich nach rechts. Der Name dort fehlte, aber vermutlich wäre es der Name seiner Frau gewesen. Darunter ein Sterbedatum, gekennzeichnet mit einem Kreuz. Von Thomas und dem freiem Namensfeld seiner Frau führten zwei Striche nach unten, darunter die Geburtsjahre der beiden Söhne. Allerdings war nur der Name des zweiten Sohnes aufgeführt. Vigilius.
Vom ersten Sohn führte dann wieder ein Strich zur Seite, zur Ehefrau, deren Name allerdings ebenfalls fehlte. Und dann in Verbindung beider dann gleich drei Striche nach unten, für die die drei Kinder. Und von denen führten weitere erst zur Seite zum Ehepartner und dann nach unten für weitere Kinder, die dann ebenfalls Ehepartner und dann auch wieder Kinder bekamen.
Zwar waren noch immer nicht alle Namen und Geburts- bzw. Sterbejahre aufgeführt, aber es war deutlich zu erkennen, dass zumindest ein Sohn Thomas eine große Familie gegründet hatte.
Doch dann tauchte auch eine Verbindung zu Vigilius auf. Auch bei ihm ging ein Strich zur Seite für eine Partnerin und einer nach unten. Zwar tauchte weder der Name der Mutter noch der von Vigilius Kind auf, aber ein Geburtsjahr des Kindes. 1974.
Vigilius war also mit einhundert-fünfundzwanzig Jahren Vater geworden. Diese Neuigkeit überraschte Kayleigh für einen kurzen Moment. Allerdings gab es andere viel wichtigere Dinge, die sie interessierten.
Allen voran die Frage, warum dass alles passierte.
Sie blätterte wieder zu dem kurz zuvor aufgetauchten Text und starrte darauf. Warum muss ich das alles wissen, fragte sie sich.
Und so als würde das Buch ihre Gedanken lesen, tauchte die Antwort auf.
„Du musst die Vergangenheit kennen, um deine Zukunft zu erkennen!“
„Warum nicht auch mal eine einfache und verständliche Antwort!“ protestierte Kayleigh leise. Sich mit einem Buch zu streiten, erschien eigentlich recht sonderbar. Zumindest, wenn es ein normales Buch gewesen wäre. Doch dieses hier schien fast schon eine Art Lebewesen zu sein.
„Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach … normal bist!“ flüsterte Kayleigh, „Wenn du wenigstens helfen könntest!“
„Gefahr kommt auf dich zu! Die Schlüssel ziehen sich gegenseitig an!“ war als Antwort zu lesen.
„Schon wieder nur wirre Worte!“ dachte sich Kayleigh, „Wenn du wenigstens einen Tipp geben könntest, was ich machen soll!“
„Du kannst nicht davon laufen!“ stand in dicken Buchstaben geschrieben. Allerdings verschwand dieser Text so schnell wie er aufgetaucht war, ebenso die anderen Zeilen der eigenwilligen Konversation zwischen Kayleigh und dem Buch.
„Super!“ seufzte Kayleigh. Herausgefunden hatte sie nichts. Und neben den Fragen, wie ihre Vergangenheit ihr helfen würde zu verstehen, was nun vor sich ging oder wie sie die Originalgeschichte, welche auch immer das sein sollte, finden sollten, brannte ihre eine weitere Frage auf der Seele.
Warum war das Buch so eigenartig? Wie konnte es sein, dass es immer wieder den Text änderte? War auch das irgendeine Art von Magie?
Über ihre Fragen schlief Kayleigh wieder ein. Versteckt hinter der Küchenzeile, auf dem kalten Fußboden.
Vigilius war auf der Flucht. Er wusste nicht wohin. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich hilflos.
Und er zum ersten Mal wusste er nicht, was er tun sollte.
Zwar hatte er immer wieder mal jemanden gegenüber gestanden, der ihm den Schlüssel stehlen wollte. Doch bis jetzt hatte Vigilius selbst die Oberhand in dem Kampf gehabt.
Aber nun waren gleich mehrere hinter ihm und den Schlüsseln her. Und sie wurden dabei immer aggressiver.
Und das machte ihm ein wenig Angst.
Die einzige Idee, die ihm kam, war seinen Bruder um Hilfe zu bitten.
Doch als er in dem italienischen Dorf ankam, spürte er nicht mehr die Magie seines Bruders. Nur die Schlüsselmagie vieler fremder Reisender, die auch ihn bemerkten und ihm folgten.
Und ehe sie ihm zu nahe kamen, ging er wieder. Er hoffte seinen Bruder an einem vertrauten Platz wieder zu finden.
Seinem Bruder musste es schließlich ebenso gehen wie ihm. Auch hinter ihm wären die Jäger hinterher, auf der Suche nach den Schlüsseln.
Es gab nicht viele Orte, an denen er mit seinem Bruder gemeinsam gewesen war.
Und so erschien die Gegend, in der er geboren und seine Kindheit verbracht hatte, als einzig richtige Wahl, seinen Bruder zu finden.
Allerdings war an dem Platz an dem einst das Haus stand, in dem er mit seinem Bruder und seinem Vater gelebt hatte, längst neu bebaut worden. Nichts ähnelte mehr der ihm vertrauten Gegend. Nichts war mehr so, wie es vor hundert Jahren ausgesehen hatte.
Aber nicht nur sein Wohnhaus war verschwunden. Auch die Spur seines Bruders war längst erloschen. Seit Ewigkeiten war der Bruder nicht mehr hier gewesen und so würde Vigilius woanders nach ihm suchen müssen.
Für einen Moment fragte er sich, was nun wirklich Vorrang hatte. Den ersten Schlüssel zu finden oder sich mit seinem Bruder in Sicherheit zu bringen?
Eigentlich hatte er sich nie für feige gehalten, doch nun war ihm ein Rückzug lieber, als dass er gegen die zum Teil unwissenden Schlüsseljäger antreten wollte. Sie folgten der Magie der Schlüssel ohne zu wissen, woher die Schlüssel kamen. Und vermutlich machte dies die Jäger gefährlicher. Sie sahen nur die Macht, die sie mit den Schlüsseln hatten und nicht den Schaden, den sie damit anrichten würden.
Und dann bemerkte er, dass er bis jetzt nicht anders war als sie. Er hatte immer nur nach der Macht des ersten Schlüssels gestrebt und hatte damit versucht seinem Vater eins auszuwischen. Doch nun hatte er Angst. Angst um sich und seinen Bruder.
Er fühlte sich seit langem wieder recht hilflos und wusste nicht was er tun sollte.
Nach langem Gezeter waren die Benetts doch noch aufgebrochen. Ihr Laden lief immer mieser. Nur noch die normalen Touristen verirrten sich zu ihnen und die brachten kaum Gewinn ein.
Die Schlüsselreisenden waren seit einer Weile schon nicht mehr bei ihnen aufgetaucht.
Und die Schuld daran schoben sie Kayleigh und ihrem Bruder in die Schuhe.
Irgendetwas hatten die beiden Teenager an sich gehabt, was die Schlüsselreisenden anlockte. Die beiden waren keine normalen Schlüsselträger. Sie waren viel mehr Meister.
Allen voran Kayleigh hatte großes Potential.
Und nun, ein halbes Jahr nach dem Auftauchen und Verschwinden der beiden Teenager, war der Drang selbst wieder zu reisen immer größer geworden. Irgendetwas schien sie zu rufen.
Sie waren einfach gegangen, hatten lediglich ihre Schlüssel zusammengepackt und fanden sich nun in einem Fabrikgelände wieder.
Die Arbeiter dort waren ein wenig überrascht von dem Auftauchen der beiden. Allerdings waren die beiden nicht die einzigen, die so plötzlich auf dem Gelände erschienen.
Eine weitere Gruppe tauchte auf. Sie wirkten ein klein wenig wie eine Rockerbande. Lediglich die Motorräder fehlten, um das Erscheinungsbild abzurunden.
Sie sahen sich kurz um und kamen dann auf die Benetts zu.
„Die haben Schlüssel!“ freute sich Remi. Doch Ama teilte seine Begeisterung nicht.
„Die sind zu sechst!“ meinte sie und wollte ihren Mann dazu bewegen, lieber den Rückzug anzutreten.
Doch sie spürte diesen merkwürdigen Sog, der von ihren Schlüsseln zu der Bande ging. Wie ein Magnet den anderen anziehen musste.
Ein riesiger Kerl schritt der Bande voran und stellte sich den Benetts entgegen.
„Eure Schlüssel!“ knurrte er.
In Ama stieg die Panik immer mehr an, während ihr Mann allerdings noch immer der Überzeugung war eine Chance in einem möglichen Kampf zu haben. Seit sie aufgebrochen waren, hatten sie bereits ein paar Schlüsselträger beraubt, wenngleich sie immer Glück gehabt hatten.
Doch diesmal wäre das Glück nicht mehr auf ihrer Seite, dass war sich zumindest Ama bewusst.
„Unsere Schlüssel bekommt ihr nicht! Wir nehmen eure!“ lachte Remi siegessicher.
Ein Schmunzeln kam über das Gesicht den Hünen und auf ein Zeichen hin, griffen zwei seiner Gefolgsleute Remi an.
Diesmal war sein Übermut hinderlich und Ama musste mehr oder weniger mit ansehen, wie die Fremden ihren Mann K.O. schlugen. Sie hörten erst damit auf, auf den blutigen Körper einzuschlagen, als ihr Anführer ihnen den Befehl dazu gab.
„Die Schlüssel!“ wiederholte der Hüne und sah Ama ernst an.
Ama hatte nicht den Mut bzw. war nicht so risikobereit wie ihr Mann, holte die Schlüsselkarten hervor und gab sie dem Fremden.
Der sah die Karten an, drehte und wendete sie. Und dann zerknüllte er sie einfach und lies sie fallen.
Ama sah ihn irritiert an.
„Aber ich dachte …!“ begann sie.
„Sie sind nutzlos! Jetzt!“ antwortete er.
Seine Schläger traten wieder hinter ihn und warteten auf den nächsten Befehl.
Doch der Hüne sagte nichts. Er sah auf den leblosen blutigen Körper vor sich und zu der ängstlichen Frau, die daneben hockte und zu ihm hoch sah.
Irgendetwas war da noch.
„Ihr habt nicht zufällig den ersten Schlüssel mal in den Händen gehabt?“ wollte er wissen.
Ama sah ihn fragend an.
„Nein!“ Es war nicht so, dass sie wirklich wusste, wie der erste Schlüssel aussehen sollte. Aber seine Magie wäre wohl sehr viel mächtiger, als jegliche Magie der Schlüssel, die bis jetzt in ihre Finger gelangt war.
„Hm ...!“ überlegte der Hüne, „Aber irgendwer muss bei euch gewesen sein, der etwas von der Magie des ersten Schlüssels bei sich trug. Es hat Spuren auf euch hinterlassen!“
Ama wusste nicht, was er damit meinte.
„Weißt du, diese Magie habe ich schon einmal gespürt. Ich hätte den Schlüssel beinahe in den Fingern gehabt. Doch er verschwand. Und seitdem suche ich ihn!“ erklärte er, „Und an euch haftet ebenfalls etwas davon!“
„Ich weiß nicht was du meist!“ gab Ama zu, „Bei uns waren viele Leute und alle hatten Schlüssel bei sich!“
„Keine Idee von wem die Magie an euch sein könnte?“ Der Hüne glaubte ihr nicht.
Ama überlegte. Sie befürchtete, dass der Fremde jeden Moment seine Schläger auf sie hetzten könnte, wenn sie ihm keine passende Antwort liefern würde.
Also nannte sie ihm das erste, was ihr einfiel:
„Da war ein Mädchen und ihr Bruder! Die hatten so ein komisches Buch bei sich!“
„Wo sind sie hin?“ wollte der Hüne wissen.
„Ich weiß nicht! Sie wollten ihre Familie suchen!“ antwortete Ama panisch, „Aber das Mädchen, sie … sie war irgendwie besonders. Sie hatte irgendwie diese komische … Energie!“
Der Hüne musterte sie, so als könne er in ihrem Gesicht ablesen, ob sie log oder nicht.
„Du weißt aber nicht, wo sie hin gegangen sind?“
Ama schüttelte den Kopf.
„Pech!“ murmelte der Hüne, drehte sich zu seinen Freunden um und ging wieder zur Tür, durch die er aufgetaucht war. Seine Bande wartete kurz, so als rechneten sie noch immer auf einen Befehl von ihm.
Ama saß ängstlich neben ihrem Mann und sah den Fremden nach.
Im Hintergrund hatten sich einige Arbeiter versammelt, doch keiner hatte den Mut gehabt einzugreifen. Zudem hatten sie kein Wort der Eindringlinge verstanden. Der gerufene Sicherheitsdienst brauchte ziemlich lange, ehe er endlich auftauchte.
Der Hüne drehte sich an der Tür noch einmal um, sah zu Ama und ihrem Mann, und öffnete dann die Tür mit einer Schlüsselkarte.
„Lasst sie! Die ist harmlos!“ meinte er zu seinen Anhängern, die daraufhin zu ihm kamen und als erstes durch die Tür schritten.
Dann ging auch er.
Ama und Remi blieben zurück. Unwissend, was nun mit ihnen passieren würde. Sie waren in ein Fabrikgelände eingedrungen und wussten noch nicht einmal, wo sie steckten. Und Remi war schwer verletzt.
Der einzige Lichtblick, den Ama sah, war, dass diese merkwürdige Kraft, die sie zum Reisen angestiftet hatte, verschwunden war. Sie verspürte nun nicht mehr den Drang Schlüssel zu suchen. Allerdings war dafür nun eine Art Leere in ihr. So als hätte man ihr einen Teil ihres Lebens genommen.