Sacra Tibia: Hexagon - Der unsichtbare Mann




Unterhaltungsliteratur in ihren verschiedenen Formen, wie beispielsweise Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Berichte, Märchen und Sagen

Sacra Tibia: Hexagon - Der unsichtbare Mann

Beitragvon almafan » Do 11. Aug 2011, 14:24

Der unsichtbare Mann

niedergeschrieben von Hexagon

Erst vor 3 Wochen ist der Erzbischof von Ravenna verstorben und vor 1 Woche der Bischof von Pomesanien.
Auch der König von Sverige und die Fürstin der Provence sind verschieden. Ebenso die Königin von Leonien.
Der magrebische Mathematiker Ibn al-Banna' al-Marrakuschi hat ebenso wenig mit seinem eigenen Tod gerechnet, wie der italienische Kardinal Niccolò Alberti darauf gehofft hat.

Doch zum Scherzen ist mir nicht zu Mute. Denn ich sehe meinem eigenen Ende entgegen.
Darum verfasse ich dieses Vorwort. Auf das meine Schriften von dir Leser gefunden werden und du lernen kannst, von einem, der schon ewig lebt und doch nicht sterben will. Wenn ihr nur sehen könntet, wie ich diesen letzten Moment lebe. Mit einem Leben, alt wie ein Baum, aber eingeschüchtert, wie ein kleines Kind, dass seine Holzpuppe nicht loslassen will. Ich habe viele Leben gelebt. Aber das eine will ich nicht vergehen lassen.

Ich bin von vielen gesehen worden, doch ich bin der unsichtbare Mann. Und dies ist meine Geschichte. Und es ist die Geschichte vieler Königreiche.

Ich werde für euch der Hexagon sein. Doch mein Name tut nichts zur Sache.
Meine Unsichtbarkeit ist keine physische. Sehr wohl kann man mich sehen, man sieht wo ich stehe, wo ich gehe, wo ich sitze, wo ich liege. Meine Unsichtbarkeit ist eine gesellschaftliche. Ich bin an vielen markanten Punkten der Geschichte aktiv gewesen, doch ich werde nicht mehr wahrgenommen. Meine Geschichte erzähle ich euch hier als Rückblick.

Ich sitze in einem Keller in einem Stadthaus der Dogenstadt Verona. Ich war überall unterwegs, doch ich bin fast wieder daheim.
Diesen Keller habe ich erleuchtet mit 69 Talg- und Wachskerzen, Öllampen und Fackeln. Meine Widersacher sollen sich wundern, wenn sie diesen Raum betreten. Sie sollen erschlagen werden vom Licht und der Wärme. Ich selbst werde mich nicht wehren. Zu viele werden es sein, zu wenig Kraft ist mir verblieben.

Von diesem hellsten Punkt in ganz Verona aus, will ich in dieser Nacht das ewige Dunkel des Todes sehen. Von hier beleuchte ich dir mein Leben.
Ich war Student an den Universitäten Rhomäas. Ich war Hersteller von weißer Kalkfarbe. Ich war Installateur von Thermen. Ich war Redner während eines Sklavenaufstandes. Ich war Hausbesetzer. Ich war Hausberäumer. Ich war Beamter. Ich war Bettler. Ich war in Bruderschaften und Bünden. Ich war eins mit ihren Leitlinien. Ich war im Konflikt mit den Vorstellung der Parteiführung. Ich wurde umjubelt. Ich wurde fallen gelassen. Ich war Lehrer. Ich war Schüler. Ich war weise. Ich war dumm. Ich hatte Freunde. Ich hatte Feinde. Ich war der wütende Mob. Ich war Opfer des wütenden Mobs. Ich war Fanatiker. Ich war Geerdeter. Ich habe verfolgt. Ich bin geflohen. Ich habe erschlagen. Ich bin schon viele Male beinahe ums Leben gekommen.

Ich spüre die Hand schon an meiner Kehle. Das Messer in meiner Brust.
Sollte ich tatsächlich noch einmal das Tageslicht sehen, ich werde meine Geschichte binden und einem Verlag vorlegen.

Ihr nun müsst leider mit einer unsortierten, unvollständigen Machart Vorlieb nehmen.

Über allem aber schwebt die Frage:
Wenn ich so viele Leben gelebt habe und so viele Jahre das Kommen und Gehen von Großen und Kleinen gesehen habe, das Ändern ganzer Systeme, das Kommen und Gehen von Königreichen - wer bin ich?

Immer wieder beeinflußt - was ist von mir? Was kam von außen?
Fortwährend sah ich mich allzu oft genötigt, die eigene Identität stets wieder neu zu entwerfen und in der Konfrontation mit der Realität zu korrigieren. Stehts auch darum bemüht, mich denen zu entziehen, die über mich bestimmen wollen. Doch habe ich immer wieder versucht, meiner gesellschaftlichen Verantwortung nicht auszuweichen.

Wer bin ich?

Bin ich der unsichtbare Mann?
(#1)

Inhaltsverzeichnis:

VÖ: 22.09.2012: Die dreckige Seite Agrippinas (#2)
VÖ: 22.08.2022: Ein Tag am Limes
VÖ: 12.04.2023: Die Greeken
VÖ: 06.06.2023: Jerusalem


#1 - Diese Geschichte stammt vom 17. August 2021, wurde aber thematisch vor die anderen Geschichten gestellt, da diese sein "Buch" einleitet. Am gleichen Tag wurde das Inhaltsverzeichnis geschaffen.
#2 - Diese Geschichte wurde bereits mehrfach neu aufgelegt. Die aktuelle Fassung stammt vom 15. Juni 2018. Mit der Zusammenführung von "Sacra Tibia: Hexagon - Der unsichtbare Mann" und "Sacra Tibia: Hexagon - Die Insel Iser" am 27. September 2021 wurde diese Geschichte den beiden Kapiteln der Iser-Geschichte vorangestellt. Daher ergibt sich ein deutlich älteres Datum.
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"If the biggest problem that you're having in the twenty-first century involves
what other people's genitals look like, and what they're doing with those genitals
in the presence of other consenting adults, you may need to reevaluate your
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("Wenn das größte Problem, das du im 21. Jahrhundert hast, darin besteht, wie
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von Anzeige » Do 11. Aug 2011, 14:24

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Re: Sacra Tibia: Hexagon - Die Insel Iser

Beitragvon almafan » Sa 22. Sep 2012, 20:13

Die dreckige Seite Agrippinas

niedergeschrieben von Hexagon

im 1. Jahr der Herrschaft Heinrich II., Sohn des verblichenen Otto III., aus dem Haus der Liudolfinger, den Fürsten über Sax, der König der teutischen Lande und König des Tiber, Hegemon über die Lombardei, Fronherr der Krone, Schirmherr und Heerführer der christlichen Lande, selbst erzogen in der Obhut eines Geistlichen
im Jahre 1313 nach der Thronbesteigung des Königs Seleukos I., eines Diadochen Alexanders des Großen
im Jahre 1002 nach der Geburt des Propheten Jesus
im Jahre 718 nach der Thronbesteigung des Kaisers Diokletian auf den rhomäischen Thron
im Jahre 392 nach der Auswanderung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina

Die Niederschrift in den Wochen meiner Einkehr in die große Stadt am Pasig.
So habe ich es selbst gesehen und erlebt, kein Wort dichtete ich hinzu.

Das teutische Reich verfügt über keine Hauptstadt. Wenn es aber eine hätte, sicher wäre es Agrippina, wenn es nicht Tiber wäre.

Ich war lange nicht mehr hier. Agrippina hat sich verändert. Und nicht wirklich zum Guten.

Dreck liegt überall, mehr als in anderen Städten. Überfüllt ist sie. Laut ist sie. Zu schnell gewachsen in den letzten Jahren. Ein fauliger, beißender Gestank lässt Kaufleute, wie Erntebringer wünschen, ihre Geschäfte in dieser Stadt schnell zum Abschluss zu bringen. Seuchen, die das ganze Hinterland ergreifen, haben hier oft ihren Anfang. Sie brechen hier aus oder werden mit einem der zahlreichen Schiffe eingeschleppt. Kein Tag vergeht, an dem nicht die Männer mit den schwarzen Kutten durch die Straßen ziehen und wieder einen Toten auf der Bahre tragen. Einen jener Unberührbaren, da der Tod schnell beim nächsten ist. Sie tun ihren wertvollen Dienst und werden doch verachtet. Einen ehrlichen Beruf dürfen sie nicht ausüben. Die Stadtoberen verbieten ihnen die Braut. Und selbst wenn sie dürften, die wenigsten wollen einen solchen als Schwiegersohn aufnehmen. Wenn sie doch einen Bastard aufziehen, so müssen sie es neben der Arbeit allein tun. Ein Erbe gibt es nicht. Und Aufstieg ebenso wenig. Sträflich macht sich fast die Frau, die die Schande gesteht, ihr Kind sei von einem der schwarzen Kutten.
In ihrer Not tut sich der Stand zusammen. Obschon, die Stadtoberen verbieten eine Versammlung als Berufsstand. Sie wird ihnen verwährt. Doch groß ist die Macht der Brüderlichkeit. So leben sie oft unter ihres gleichen, zusammengerottet in Hinterhöfen und schmalen Gassen. Wenn einer stirbt, den die Seuche dahinraffte, dann kommen sie wieder aus ihren Winkeln und werden ihn bergen, für einen Groschen oder weniger.
Die schwarzen Kutten also dienen als Abschreckung. Schaulustige sind dennoch immer dabei. Man will die Männer bei ihrem makaberen Spiel beäugen. Jene die nur dafür sorgen, die Seuche ein kleines Stück einzudämmen. Verkauft werden darf ihn nur über den Stock. Ein langes Holz schiebt die Ware zu ihnen, nachdem das Geld zuvor mit diesem herangezogen wurde. Niemand grüßt sie, niemand will sie. Und doch braucht die Stadt diese Männer. Diese gehören zum Stadtbild, seit sie erstmals im Jahre 803 bei der großen Pest mehr Arbeit bekamen, als sie bewältigen konnten. Nicht eine Familie, die nicht jemanden verlor. Mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung raffte dahin. Andere Orte traf es nicht so hart. Das ist das Los großer Städte.
"Totenträger", "Schwarzkutten", "Totenbringer" oder "Pestschlepper". Das sind alles gängige Bezeichnungen für die fleißigen Männer. Damit drückt der gemeine Mann seine Bewunderung für den Mut und gleichermaßen seine Verachtung über diese Armen aus. Sie dienen dem Gemeinwohl und sind dennoch nicht in der Gemeinschaft.

Auch ich erschrak, als sie das erste Mal meinen Weg kreuzten. Doch nun, da ich um sie weiß, empfinde ich nur noch Mitleid. Die armen Hunde unter den Kutten wissen, dass sie die nächsten sein könnten, die verenden und im Verdacht der Seuche außerhalb der Stadt, weit ab der Mauern in irgendeinem Massengrab verscharrt werden. Kein Stein wird ihrer gedenken, kein Holz wird zur Andacht mahnen.

Die Stadt selbst zeugt allgegenwärtig von der großen, fast ewigwährenden Geschichte. Die Präsenz der Rhomäa ist ebenso wenig der Stadt entschwunden, wie die Zeiten der ersten Christen, der merowingischen Herrscher und der karolingischen Dynastie. Oft geht man nur von Viertel zu Viertel und findet sich in einer anderen Zeit. Den Glanz, gewiss, muss man suchen wollen, möchte man ihn finden. Agrippina überstrahlte einst das päpstliche Tiber, das durch die Herren in Konstantinopel noch immer nahtlos an die imperialen Epochen anzuschließen vermag. Agrippina ist heute größer, dass lässt sich nicht bestreiten. Aber schöner ist es nicht.
Wo ist sie hin, die Kunst, eine so große Stadt sauber zu halten? Es findet sich kaum ein Moment, wenigstens das Gröbste zu beseitigen. Doch es gibt sie, die falsche Sauberkeit. Der Pasig durchfließt den Ort von Ost nach West und trägt ihn weg, den Müll, der falschverstanden durch diesen die Stadt verlässt. Der Fluß selbst war einst die Hauptversorgung für sauberes Trinkwasser aus den nahen Rhonebergen und lieferte durch jahrtausende alte Baukunst unterirdisch auch Wasser in die Zisternen und Brunnen der Stadt. Heute erstickt er im Dreck, der sich ungefiltert ins Hafenbecken ergießt. Bis an den alten Truskenwall, der dem Hafen, als künstlicher Damm von den Rhomäa aufgeschüttet, vorgelagert liegt. Es stinkt das ganze Wasser. Fische fängt hier keiner mehr. Bei Sturmflut wirft das Meer den Dreck zurück an Land, so als wollte Poseidon sein Meer rein halten.
Wäsche wäscht hier keiner mehr. Wer das Wasser verwenden will, muss es lange auskochen. Man begegnet dem Problem auf amüsante Weise und sorgt somit für die Wirtschaft. Der Handel von Bier und Wein blüht prächtig, denn gefiltert ist das nasse Gut und Hopfen, Hefe und Traube überdecken den übrigen Gestank. Für wahr, einen Feinschmecker lockt man damit nicht. Es bleibt: Das Wasser ist vergiftet.

Ähnliche Sorgen scheint es aber vor mehr als Tausend Jahren schon einmal gegeben zu haben. Wandert man in der Stadt dem fäulnisdarbenden Fluß entlang, so kann man in den niederen alten Handelshöfen, kaum über dem Wasserspiegel des Flusses, Zeugnisse vergangener Versuche finden, die Stadt vom Müll frei zu halten.
Ein riesiges, grobes Gitter liegt halb in den Fluß ragend, bleiern am Boden. Flußaufwärts finden sich abgescharbte, abgeschmirgelte Schaniere im Wasser. Sie sind bearbeitet durch den Fluß, vielmehr noch aber durch die zahlreichen kleinen und großen Fetzen, Hölzer, Schlick und Sande, die mit dem Fluß ins Meer gespült werden.
Das Gitter scheint länger als der Fluß breit ist und auch die Riefen und Vertiefungen im Boden sind nicht auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten. Sie sind leicht versetzt. Deute ich diesen Fund richtig, so wurde das Wasser nicht nur grob durchsiebt, sondern der Schmutz zur etwas flussabwärts gewandten Seite geleitet, wo auch heute noch ein flaches Becken darauf hinweist, dass hier der Müll in diese Senke gespült wurde.
Ich war nie hier, als die Anlage noch tüchtig ihren Dienst vollrichtete, aber ich kann mir vorstellen, dass der gesammelte Abfall mit Karren weiter weg transportiert wurde. Aus anderen Städten jener Zeit ist mir bekannt, dass der Müll eine Strecke weit vor den Stadttoren aufgetürmt und dann verbrannt wurde. Mit der gewonnenen Asche konnte dann der Acker gedüngt werden. Wieso sollte es hier einst anders gewesen sein?

Offenbar war eine solche Schleuse auch nahe der Stelle verortet, an der der Fluß in die brahmsche Bucht mündet. So blieb das Hafenbecken einst sauber und man konnte sicherlich ein paar große Brocken angeln, all das zwischen Galeeren und Trimeren. Ich will die Zeit von damals nicht bewerten, aber malerisch klingt es wohl.
Da in alten Handschriften von großen Schleusen geschrieben steht, sehe ich meine Annahmen bestätigt.

In der Stadt finden sich auch viele Zugänge zur einst viel gerühmten Kanalisation. Die meisten Eingänge entpuppen sich heute als Sackgassen, da kurz nach der Tür, so sie denn nicht heraus gebrochen ist, die Tunnel im Laufe der Zeit und in ermangelnder Wartung eingestürzt sind. Oft sind sie auch zugeschüttet, um Dieben ein Versteck zu verleiden. Zu meist aber sind die Zugänge einfach unbedacht überbaut worden. Sie stecken unter den Böden oder hinter zugemauerten Wänden. Die Straßenverläufe haben sich geändert und so findet man nicht mehr viele dieser Tore in eine Stadt unter der Stadt.
Dort aber sicherlich wird die Zeit ebenso Einzug gehalten haben. Die noch offenen Eingänge dienen sicher einigen Säckelschneidern, Langfingern und Räubern als eine heimliche Bleibe. Die verwinkelten Gänge sind für die Stadtwachen ein Graus. Niemand will sich so recht da unten auskennen. So fand auch ich keinen Führer. Aber vielleicht habe ich auch nur die falschen befragt. Ich gehe davon aus, aber ich kann es nicht beweisen, dass die meisten Abschnitte mittlerweile den eingestürzten Toren zu diesen gleichen.
Vergangen ist sie, ach, die große Zeit. In jenen soll jede größere Stadt im Burgenland eine Kanalisation besessen haben. Doch Abwässer führen wohl nur noch die wenigsten Teile davon.

Erhebt man den Blick über die Stadt, so wird gewahr, dass noch mehr Zeugnisse aus alten Tagen vor aller Augen ihre Vergangenheit stumm kundtun. Ziegelsteine aufgetürmt bis über die Dächer der Stadt trugen einst Bögen die ganze Höfe überspannten und zu den Zisternen und großen Brunnen der Stadt führten. Da auch jene mit dem Zusammenbruch des Westrhomäischen Reiches nicht mehr in Stand gehalten wurden, brachen irgendwann die Bögen ein.
An einigen Häusern lässt sich nachweisen, dass sie anschließend aus jenem Material verfertigt wurden. Steinerne Häuser haben sich also durch diese Art des Steinbrechens erhalten. In anderen Städten ist der Steinbau zum Erliegen gekommen und sie muten an, wie große Dörfer aus Holzhäusern.
An vielen Stellen aber sind die Kolosse erhalten geblieben und nehmen die Sonne von der Straße. Sie werfen weite Schatten. Bildlich und symbolisch. Denn auch sie sind Zeugen einer Zeit, in der die Geschicke des Menschen bessere waren und er Bauten errichten konnte, als sollten sie zum Himmel reichen. Einige Kolosse aber sind selbst gestürzt. Ihnen half es wenig, die Bögen abzuwerfen. Nicht selten liegen sie noch heute da, wo sie Jahrhunderte her ihren Niedergang erfuhren. Die Straßen sind hindurchgezogen worden und der Schutt auf's Gröbste beräumt, aber oft auch wurde die darunter liegende Wegführung oder der darunter liegende Hof aufgegeben. Und so bleibt liegen, was keiner Ordnung bedarf. Bewuchs macht sich darauf breit und Tiere siedeln hier an. Inmitten der unruhigen Stadt entstehen so Oasen der Ruhe. Bäume sind hier keine zu finden, da sie schnell dem Praktischen dienen und im Ofen landen oder herausgerissen als Ausbesserung am Reetdach angebracht werden. Kleinere Sträucher und Unkraut überwuchert aber die steinigen Haufen und bietet manchem Tier Unterschlupf.
Allein eines der Aquädukte, wie die Rhomäa sie nannten, ist noch erhalten geblieben und tut wenig verlässlich seinen Dienst. Ihm allein ist es zu verdanken, dass noch ein Restgehalt klaren Wassers die Stadt erreicht. Aber es bröckelt an vielen Stellen auf der gesamten Strecke. Und der endgültige Bruch ist nur eine Frage der Zeit. Keine Kenntnis mehr hat einer der Steinmetzen, sie zu restaurieren. Keine Kenntnis hat der Baukundige mehr eine Restauration zu planen. Kein Geld hat mehr einer, diesen Aufwand zu zahlen.

Neben Tod und Verfall sahen meine Augen dann kurz vor meiner Abreise dann doch einen Funken Reinlichkeit. Unbeholfen zwar, aber einmalig im Okzient, haben sich in den letzten Jahren Gestalten ins Stadtbild gemischt, die man früher nie kannte. Auch sie werden gemieden, da sie nur dem Dreck der Stadt verpflichtet sind. Straßenfeger nennt man sie.
Von den Stadtoberen angestellt, aber in keinem Amt versehen, schieben und schleppen sie den Müll der Straßen umher. Was der Regen nicht fortspült, weil es in Ecken liegt oder zu schwer ist, bringen sie in Rinnen oder fahren es mit dem Karren. Sie schütten alles ohne Unterscheidung in den ohnehin toten, viel zu vollen Fluß. Dieser trägt, was er noch zu tragen vermag, in den Hafen.
Nach der Langfristigkeit eines solchen Handeln fragt hier niemand. Und es wird sicherlich wieder zu Problemen führen, die heute noch keiner sehen kann oder will. Aber es dient der Stadt, auch wenn die paar Hanseln dem Dreck der Straßen nicht Herr werden. Merklich dennoch in welchen Gassen sie vor kurzer Zeit schon waren und in welchen nicht.

Der Fluß kriecht mit der Last nur noch. Einst soll er ein Quell an Kraft gewesen sein.

Ja, Agrippina hat sich verändert. Und das nicht zum Guten.
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Re: Sacra Tibia: Einblicke in jene Zeit

Beitragvon almafan » Mo 22. Aug 2022, 12:10

Ein Tag am Limes

niedergeschrieben von Hexagon, aber einen Zeitraum betreffend

im Jahre 555 nach dem Tod des makedonischen Königs und Herrführers Alexander des Großes
im Jahre 543 nach der Thronbesteigung des Königs Seleukos I., eines Diadochen Alexanders des Großen
im Jahre 232 nach der Geburt des Propheten Jesus
im Jahre des Krieges des Königs Seleukos II. und Ardaschir I., dem König des abgespalteten Reich der Parther

Die Niederschrift im Jahr meiner Wanderschaft durch die raetischen Lande.
So begeben hat es sich, wie ich selbst gesehen habe und durch Gehörtes ergänzte.


Es ist später Herbst. Die Bäume sind bereits in die vielen Farben dieser Zeit gefärbt. Sattes Grün weicht Gelb-, Orange- und Rottönen.
Für die Wachsoldaten am Obergermanischen Limes geht ein weiterer wenig ereignisreicher Tag zu ende. Der nasskalte germanische Winter kündigt sich bereits mit ersten Graupelschauern und kalten Nächten an. Wie jeden Morgen ertönt im großen Kastell in Mainhardt bei Sonnenaufgang das Wecksignal. Das ist die Aufgabe der diensthabenden Nachtwache an der Porta Pretoria an dem vorderen zum Feind ausgerichteten Haupttor. Die Schallwellen des Hornsignals verbreiten sich vom Kohortenkastel bis zu den viel kleineren Lagern mit nur etwa dreißig Mann Besatzung, die direkt oben am Limes in strategisch wichtigen Positionen am Grenzwall liegen. Von dort werden die Signale weitergegeben bis zu den fernen Wachttürmen und setzen sich von Wachturm zu Wachturm fort.

Auf allen Türmen werden jetzt die Mannschaften geweckt. Im Kastell Mainhardt macht sich derweil in der Soldatenstube die Contubernia Rhomäisch III der ersten Kohorte marschfertig.
Das Kastell liegt auf dem nach drei Seiten hin von Tälern eingefassten, sanft nach Norden geneigten Geländerücken des Riedel, ein schmaler, langgestreckter, flacher Geländerücken zwischen zwei Tälern. Der Platz gewährte einen freien Ausblick nach Osten gegen den vierhundert bis fünfhundert Schritt von der Kastellfront entfernten Grenzwall, aber auch nach Westen und Norden. Verbindungswege bestanden zu den Kastellen in Öhringen und zu dem Kastell Murrhardt. Die Verbindung zum Hinterland wurde durch eine Straße an den früheren Standort der Kohorte in Walheim am Neckar gewährleistet. Die Lage war wenig siedlungsgünstig.

Die Rhomäische Legion bestand ab der Zeit der punischen Kriege aus mehreren Kohorten. Die erste Kohorte war in doppelter Mannschaftsstärke besetzt und unterstand zumeist dem Legatus, der auch die Legion führte, zu der diese Kohorte gehörte. Die anderen Kohorten hatten einenen Centurio primus vorangestellt, die dem Legaten unterstellt waren. Die Kohorten waren wiederum unterteilt in Manipel. Die Sollstärke einer Legion war viertausend Mann. Meist waren sie größer oder kleiner. Mit Ausnahme der ersten Kohorte stellte eine jede ein Zehntel davon. Das Manipel wiederum ein Drittel einer Kohorte. Eine Centurie, ein halbes Manipel, hatte eventuell nur früher ihre namensgebenden einhundert, tatsächlich später sechsig bis achzig Mann an Iststärke. Die Contubernia wiederum ist seit der späten Republik belegt. Sie bedeutet Zeltgemeinschaft und bestand aus acht Mann.

Ein Contubernium teilte sich nicht nur ein Lederzelt, sondern auch Handmühle und Maultier mit Treiber und bildete somit eine Haushalts- und Kampfgemeinschaft. Die Soldaten standen in der Schlachtordnung beieinander und bildeten vermutlich eine Rotte der acht Mann tiefen Phalanx. Sie marschierten zusammen, bereiteten gemeinsam das Essen und schanzten bei der Errichtung einer Feldbefestigung einen Abschnitt mit ihren Pila muralia. Bei Verfehlungen einzelner wurde oft auch die ganze Gruppe mit bestraft.
Bis zur Heeresreorganisation des Kaisers Hadrian hatte das Contubernium keinen leitenden Dienstgrad, sondern wurde vom jeweils Dienstältesten geleitet. Danach wurde das Contubernium auf zehn Mann verstärkt und von einem decanus geführt. In dieser Zeit wurde das Contubernium auch manipulus genannt. Um der Verwirrung zu entgehen, im Zuge der Reorganisation fielen die bisherigen Manipel als organisatorische und taktische Einheiten weg. In Ostrhomäischen Reich unserer Tage gibt es diese Mannschaftseinheit bis heute.
In den Standlagern, in denen im Gegensatz zu den Marschlagern keine Zelte mehr aufgeschlagen, sondern feste, teilweise mehrstöckige Mannschaftsbaracken gebaut wurden, ging der Begriff auf den von jeweils acht Soldaten bewohnten Teil einer Mannschaftsbaracke über. Eine solche Mannschaftsbaracke bestand aus zehn Contubernia und einem Centurionenkopfbau, in welchem der Kommandant der jeweiligen Centurie untergebracht war. Das Contubernium selbst bestand aus einem Schlafraum, auch papilio, das lateinische Wort für Zelt, genannt, und einem Vorraum, der arma, was wiederum für Waffen oder bewaffnen steht. Die papiliones konnten mehrstöckig sein und wiesen Herdstellen auf. Die arma diente primär der Unterbringung der Waffen, wurde aber auch als Pferdestall bei berittenen Einheiten oder für handwerkliche Tätigkeiten genutzt.

Von den acht aus dem fernen Asturien in Leonien stammenden Soldaten der Stube sind aber nur sechs eingeteilt. Ab heute werden sie für vierzehn Tage den Wachdienst auf dem eine halbe Tagesreise entfernten Limesturm IX - CCCCLXXXIII übernehmen. Aus dem Stall der Tragtierbereitschaft hat ein Soldat bereits ein Maultier geholt und mit Lebensmitteln beladen. Die Wachmannschaft bricht schon sehr zeitig am frühen Morgen auf. Der Dienstälteste führt die Gruppe zur Porta Pretoria und meldet diese beim wachhabenden Unteroffizier ab. Dieser schreibt die Einheit, die Namen der Soldaten, den Wachturm und Tag und Stunde des Aufmarsches auf eine Wachstafel.

Draußen beim Kleinkastell Mainhardt-Ost herrscht um diese Zeit noch mäßiger Grenzverkehr. Die Germanen können nach Kontrolle und Entrichtung von Zoll ihre Waren in die rhomäischen Städte schaffen, um sie dort auf den Märkten zum Kauf anzubieten. Honig, geräuchertes Wild und gepökeltes Fleisch, manchmal auch blondes Haar. Das sind die Schöpfe ihrer Töchter. Die werden in der Hauptstadt des Imperium Romanum besonders teuer bezahlt. Hier in der Provinz ist der Gewinn nicht ganz so groß.
Erst direkt am Wall gibt es eine Kreuzung. Eine Straße führt vom germanischen Gebiet vorbei am Kleinkastell, die andere folgt der kompletten Linie des Limes und verbindet so alle Kleinkastelle und Wachtürme. Ab hier beginnt der einseitige und lange Teil des Marsches.

Im Wachturm IX - CCCCLXXXIII werden die Soldaten bereits erwartet. Die müde alte Wachmannschaft hat längst gepackt und wartet nur noch auf das Hornsignal am Mittag vom Kleinkastell, um endlich den Wachwechsel auszuführen.
Die beiden Truppenführer besteigen gemeinsam den Turm, um die Vollständigkeit der Ausrüstung zu prüfen. In der obersten Etage im Wachraum sind viele Gerätschaften festzustellen, unter anderem ein Signalhorn aus Messing, je fünf größere und fünf kleinere Wurfsperre und drei Bögen mit je fünfundzwanzig Pfeilen. Alles Vollständig.
Im mittleren Geschoss, also dem Schlaf- und Aufenthaltsraum der Soldaten muss folgende Ausstattung vorhanden sein. Neben den hohen Stockbetten ein Tisch mit Hockern, diverse Öllampen aus Ton für die Beleuchtung, eine Getreidemühle aus Basalt, verschiedenes Geschirr und einiges mehr. Die Kochstelle dient in der kalten Jahreszeit auch zum Heizen des Raumes. Über eine Leiter erreichen die beiden das spärlich beleuchete Untergeschoss, das von außen nicht zugänglich ist. Neben den wichtigsten Geräten und Werkzeugen werden hier auch die Lebensmittel aufgewahrt. In den Amphoren befindet sich Wasser und Ölivenöl oder auch Garum, die bekannte Würzsauce aus Fischresten.
All diese Dinge müssen durch die neue Wachmannschaft mitgebracht werden. Was in der Zwischenzeit verbraucht wurde, muss aufgefüllt werden. Die erfahrenen Wachmannschaften wissen, wie hoch der Verbrauch in den nächsten zwei Wochen sein wird. Was verschlissen ist oder repariert werden muss, übermittelt die Wachmannschaft, die abreist im Kastell. Und zwar jene, die den Fehler festgestellt hat. Die Wachmannschaft, die die jetzige ersetzen wird, bringt die Materialien oder den Ersatz und macht sich nach der Ankunft auch an die Instandhaltung des Turmes. Dies geschiet in der frei einteilbaren Zeit oder durch Beauftragung durch den Dienstältesten.

An Arbeit fehlt der Mannschaft aber auch so nicht. Der Wachdienst wird eingeteilt. Die anderen werden auf die Jagd geschickt. Oder sie sollen sich um die angepflockten Ziegen kümmern. Oder bei einem nahegelegenen Wasserloch oder Bach Wasser schöpfen. Kleinere Reparaturen oder neue Verkalkungen oder Verputzungen werden durchgeführt. Noch aber richtet man sich erst einmal ein.
Ein Kamerad bereitet jetzt eine schnelle Mahlzeit zu den nicht sonderlich beliebten Puls, einen grauen Brei. Apicius überliefert in seinem römischen Kochbuch De re coquinaria verschiedene Pulsrezepte, bei denen dem Getreidebrei auch Fleisch und Hirn zugefügt wird, was aber eher eine Ausnahme darstellt. Man weicht die Bohnen am Vorabend ein oder verkocht sie zum Zeitpunkt der Zubereitung. Eine Zwiebel, eine Knoblauchzehe, eine Stange Sellerie, eine Karotte, eine Pastinake, eine Stange Lauch werden kleingeschnitten. Zwiebel und Knoblauch werden in einer großen Pfanne angeschwitzt, dann das Gemüse dazugegeben. In einem Kopf kocht derweil der Getreibebrei aus Emmer, manchmal auch Dinkel, und Wasser. Zur Verfeinerung wird manchmal ein Schluck Milch zugegeben. Bevor der Brei weich wird, werden die Bohnen hinzugefügt. Zum Schluss kommt auch das Gemüse dazu und das Ganze wird noch mit diversen Gewürzen abgeschmeckt. Salz, gemahlener Pfeffer, Kreuzkümmel, Garum, getrockneter Oregano und frische Kräuter nach Belieben kommen zum Einsatz. Besonders beliebt in der rhomäischen Küche sind aber auch Koriander, Weinraute, Estragon und Minze.
Ein weiterer Kamerad mahlt bereits das Getreide, bis zur Zehnt, der Hauptmahlzeit am frühen Abend reicht der nahrhafte Brei allemal. Hunger muss man in der rhomäischne Armee normalerweise nicht fürchten. Bei diesem Turm kann vor Ort sogar das Brot gebacken werden.

Von der Holzgalerie am oberen Stockwerk hat man einen weiten Blick über die Grenze und sieht hinüber bis zu den beiden, jeweils einige hundert rhomäische Fuß entfernten Türmen. Die Signalkette darf nie unterbrochen werden.
In den letzten Monaten war das Leben an der Grenze jedenfalls recht ereignislos. Jedoch wird im Lager schon berichtet, dass die Alamannen sich zu neuen Raubzügen sammeln.

Ende
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Re: Sacra Tibia: Hexagon - Der unsichtbare Mann

Beitragvon almafan » Mi 12. Apr 2023, 14:17

Die Greeken

niedergeschrieben von Hexagon

im 1. Jahr der Herrschaft Flavius Jovianus, Sohn des verblichenen Flavius Claudius Iulianus, der ein Enkel Kaiser Constantius’ I., ein Neffe Kaiser Konstantins des Großen und ein Vetter Kaiser Constantius’ II war und im Kampf gegen die Sassaniden fiel, Kaiser des Rhomäischen Imperiums
im Jahre 1116 nach der Gründung Roms
im Jahre 686 nach dem Tode Alexander des Großen
im Jahre 299 nach dem großen Brand von Tiber
im Jahre 39 nach der Thronbesteigung des Kaisers Konstantin des Großen

Die Abschrift im Jahr meiner Niederschaft in Athen
Ich bezeuge die korrekte Abschrift der Niederschrift aus den greekischen Archiven, wie sie da waren und mir gezeigt wurden am Tage meiner Beauftragung durch den Stadt- und Amtsmann Honiratius. Er half bei der Übersetzung in den Text, der Ihnen, mein Herr, nun vorliegt. Zudem ist sie eingebettet in eine erdachte Handlung eines Landmanns in einer Zeit vor mehr als fünfhundert Jahren.

Die ersten Hähne krähen. Das Morgenlicht dringt durch dachlukenartige Öffnungen in das Haus. Es liegt im Stadtteil Skambonidai in der Oberstadt, wo die tonangebenden Familien leben. Dennoch ist es nur ein schmuckloser, eingeschossiger Bau, bescheiden wie fast alle der rund zehntausend Häuser Athens. Aber wer hier wohnt, hat es gut im Gegensatz zu den Menschen in den überfüllten Elendsquartieren in der Unterstadt.
Die Älteren haben es erlebt: Erst vor einer Generation hatte die Weltmacht Persien unter Xerxes Athen dem Erdboden gleichgemacht. Nach dem Rückzug der Eroberer durch den heldenhaften Sieg der vereinten Polis der Ägaeis im Jahr ist die Stadt ohne jeden Plan wieder aufgebaut worden. Von der Akropolis, dem auf einem Felsen liegenden Siedlungskern, erscheint sie nun als wirre, graue Ansammlung flacher Dächer. Dazwischen: verwinkelte und ungepflasterte Gassen, höchstens drei Meter breit.
Die Häuser, meist nicht von Maurern, sondern von ungelernten Helfern hingestellt, haben dünne Wände. Sie sind so leicht zu durchstoßen, daß Einbrecher "Mauerdurchbrecher" heißen. Die dunklen und engen Wohnräume öffnen sich jeweils nur zum Innenhof. Ihn muß man also jedesmal überqueren, wenn man von einem Zimmer in ein anderes gehen will. Die mit Kalk geweißten Stuben sind spärlich möbliert: Hölzerne Sessel ohne Armstütze, Hocker, Fußschemel, dreibeinige Tische, eine verzierte Wäschetruhe, bemalte Vasen, Krüge, Schüsseln und Becher aus Ton, seltener aus Metall das genügt einem vornehmen Athener. Wichtig sind für ihn die Vorratskammern: die trockensten für das Getreide, die kühlsten für den Wein, die engsten für die Schweine. Viele Stadtbewohner halten sich Vieh.

Der Hausherr, der die Decken seiner leicht versetzbaren Liege beiseite schiebt, hat nackt geschlafen. Er steht früh auf, wie die meisten Athener. Der Einunddreißigjährige ist schlank und ziemlich durchtrainiert, mittelgroß und kräftig. Das dunkle Haar läßt er, neuer Mode folgend, regelmäßig schneiden. Zum Schnurrbart trägt er einen sauber gestutzten Spitzbart. Ein Siegelring schmückt den vierten Finger seiner linken Hand.
Er heißt Diodoros. Aber weil dieser Name so gebräuchlich ist, hat er Miltiadou hinzugefügt, "Sohn des Miltiades". Er lebt von den Einkünften aus seinem Landgut vor der Stadt und von seinem Kapital, das er gewinnbringend in Sklaven investiert. Er verpachtet sie als Bergleute, die fünfundzwanzigtausend Schritt südöstlich der Stadt aus den staatlichen Gruben Silber, Blei und Zinn fördern. Die qualvoll engen Stollen sind nicht mal einen halben Klafter (#1) hoch. Kauernd reicht man die Säcke mit dem Abraum von Hand zu Hand. Die Aufsässigen unter den tausenden Sklaven sind im Berg angekettet oder an Eisenringe gefesselt.

Das "Goldene Zeitalter" ist in Wahrheit ein silbernes. Dank des Edelmetalls blühen Politik, Kunst, Literatur und Philosophie geradezu explosionsartig auf. Von der Staatskasse bezahlte Architekten, Bildhauer und Tragödiendichter schaffen Werke für die Ewigkeit.
Diodoros gehört zur Minderheit der Wohlhabenden. Ein Müßiggänger, der sich der Schönheit und dem Genuß hingibt, sofern er nicht gerade Gespräche über Politik oder Philosophie führt. Eigentlich ist er auch Ehemann und Vater, doch in dieser Rolle tritt er kaum in Erscheinung.
Wie alle Leute ist auch Diodoros abergläubisch. Er vertraut in wichtigen Fragen Orakeln, die sich im Rauschen von Laub oder in den Weissagungen der Pythia äußern. Er hat, um Platon zu zitieren, "keine Bedenken, Eichen und Steinen zu glauben, solange die Antworten richtig sind."

Sein Haus ist nicht seine Burg, sondern vor allem Schlafstätte. Die Haussklaven liegen nachts, nach Geschlechtern getrennt, zusammengepfercht in Verschlägen. Diodoros und seine Frau haben ein Schlafzimmer. Das ist zwar geräumiger, aber dennoch klein. Der Abort, ein Gefäß aus Ton oder Metall, befindet sich in einer versteckten Ecke auf dem Hof. Die Küche mit rußgeschwärzter Decke ist zugleich Bad. Wenn Diodoros duschen will, steigt ein Sklave auf einen Schemel und überschüttet seinen Herrn krügeweise mit Wasser. Doch das ist knapp.
Diodoros wäscht sich an diesem Morgen nciht, sondern betupft sich stattdessen mit einem öligen Parfüm. Dann legt er den ärmellosen weißen Chiton an, indem er Vorder- und Hinterblatt an der Schulter mit Hakenspannen verknüpft. Auf beiden Siten, denn er trägt den rechten Oberarm ja nicht nackt wie ein arbeitender Sklave. Darüber kommt ein kurzer Mantel, Chlamys genannt, aus dünner Wolle. Purpur, violett, olivgrün oder farbig gestreift.
Diodoros faßt mit der rechten Hand die Falten des Umhangs und wirft sie, weit ausholend, zur Linken hinüber. Eine Geste, die man das "Ankleiden mit der Rechten" nennt. Der älteste der Haussklaven prüft den korrekten Sitz. Ein üppiger Faltenwurf beweist Eleganz und Vornehmheit, unterscheidet den Herrn vom Handwerker.
Frühstück ist für Diodoros Nebensache. Er tunkt ein paar Bissen Brot in seinen Muntermacher, unverdünnten Wein. Weiteren Rebensaft, den er im Laufe des Tages trinken wird, verwässert er dagegen stark.
Währen er seine mit Nägeln beschlagenen Sandalen aus Hundeleder anzieht, überlegt er, wie viele "Eulen" er heute brauchen wird. So nennt man die Silbermünzen, die auf einer Seite das behelmte Haupt der Göttin Athene zeigen, auf der anderen Seite ihren geheiligten Vogel, die Eule. Drei Drachmen steckt Diodoros ein. Das ist soviel, wie ein Bauarbeiter in drei Tagen verdient. Genug für die Einkäufe dieses Tages.
Dann schlägt er, wie jeden Morgen denselben Weg ein, gemessenen Schrittes. Nur Sklaven haben es eilig. Wehe, wenn sie einmal nicht rennen. Diodoros gibt höllisch acht, wohin er tritt. Auf allen Wegen liegen stinkende Abfälle. Misstrauisch behält er die Fenster im Auge, horcht auf den gefürchteten Ruf "Weg da!" Schütten doch manche Mitbürger ihren Unrat nicht nur in der Dunkelheit auf die Gasse.

Diodoros geht gern ins Zentrum der Stadt. So einfach sein Heim ist, so überwältigend sind die Eindrücke hier, Statuen von Göttern, Kriegshelden und Staatmännern, von berühmten Rednern und Sportlern, sogar von Rennpferden stehen überall. In den Tempeln und ihren Nebengebäuden, in Gärten und Kaufhallen, in Theatern, heiligen Grotten und Hainen.
Zuviel des Guten, eine unsinnige Überladung? Diodoros empfindet das anders. Können doch Standbilder Wunder bewirken, vor allem die der Heroen, der halbgöttischen Übermenschen. Auch an den "Hermen" stört er sich nicht. Diesen Kultmälern begegnet man mehrmals in jeder Staße. Ein vierkantiger Schaft, der oben lebensgroß den bärtigen Kopf des Gottes Hermes zeigt und unten dessen mächtiges Geschlecht. Erigiert, mit sorgsam herausgemeißeltem Schamhaar. Der Phallus ist ein Glückssymbol, sein Samen sorgt für Nachkommen. Und er symbolisiert die Grundhaltung der greekischen Gesellschaft: Das Maß aller Dinge ist der Mann. Die Frau trägt zwar die Kinder aus, aber sie ist nicht mehr als ein Gefäß, ein Acker, der die Früchte hervorbringt.
Diodoros gehört zur privilegierten Minderheit der frei geborenen, volljährigen Bürger. Nur sie, etwa jeder Zehnte der Bevölkerung, sind an der Regierung beteiligt. Frauen, ansässige Ausländer und Sklaven haben kein Wahlrecht. Vierzigmal im Jahr tagt Athens Parlament, die Volksversammlung, in einem Theater westlich der Akropolis. Am dortigen Hügel hat man für Tausende steinerne Sitzplätze geschaffen. Hier findet auch eine wichtige Abstimmung statt: das Scherbengericht. An ihr müssen mindestens sechstausend Bürger teilnehmen. Sie schreiben den Namen gefürchteter Politiker auf Tonscherben. Wer 6000 oder mehr Stimmen erhält, der wird für zehn Jahre ins Exil verbannt. So soll verhindert werden, daß Diktatoren an die Macht kommen.
Einmal wollte Diodoros sich vor einer Sitzung drücken. Promt bekam er es mit den Sklaven zu tun, die im Auftrag der Stadt für die öffentliche Ordnung sorgen. Vor jeder Versammlung versperren sie alle Wege und treiben die Bürger mit langen Tauen auf den Hügel. Die Stricke sind mit roter Kreide gefärbt. Weil Diodoros' Umhang an jedem Tag rote Flecken bekam, musste er Strafe zahlen.
Diodoros erinnert sich wie er hier vor einigen Jahren für den begnadeten Redner Perikles gestimmt hat. Der adlige Führer der demokratischen Partei, bekannt für Würze und Kürze seiner Vorträge, lenkt seitdem den athenischen Staat. Seine fünfzehnjährige Regierungszeit, die mit seinem Tod endete, bringt Athen Macht und Wohlstand.
Athens Demokratie ist direkt, ohne den Umweg über gewählte Volksvertreter. Jeder darf die steinerne Tribüne betreten und so lange reden, wie er die Zuhörer fesselt. Auch Diodoros ergriff hier einmal das Wort. Doch er hat es bereut: Den Zwischenrufen und Argumenten scharfzüngiger politischer Gegner war er nicht gewachsen. Nach diesem Misserfolg wollte er spontan eine Rednerschule besuchen, doch der Aufwand an Zeit und Geld schien ihm die Sache nicht wert zu sein.
Alle freien Männer, ob arm oder reich, sollen am öffentlichen Leben teilhaben. Die Athener Verfassung kennt daher neben der Wahl ein Losverfahren. Dadurch hat jeder die Chance, einen Verwaltungsposten einzunehmen. Eine Ausbildung wird nicht verlangt. Doch die Ämter sind auf ein Jahr befristet, und niemand darf mehr als zweimal auf denselben Posten. So sollen Vetternwirtschaft und Bürokratie vermieden werden.
Der Staat bezahlt alle öffentlichen Dienstleistungen. Geschworene, Ratsmitglieder, Bürger, die im Militär dienen, werden täglich für den Verdienstausfall entschädigt. Diese Ausgaben sind ein Hauptposten im Etat des Stadtstaates.
Diodoros rechnet damit, dass ihn das Los bald für ein Jahr in den Rat der Fünfhunder beruft. Dieser entwirft die Tagesordnung der Volksversammlung und bildet eine Art Präsidium. Der Rat der Fünfhundert besteht aus zehn der zehn Strategen. Hier versammeln sich ausschließlich die Feldherren der Streitkräfte. Um in diesen Kreis aufgenommen zu werden muss man, wie Perikles, militärische Erfolge nachweisen.

Diodoros ist kaum eine Viertelstunde unterwegs, da wird das Stimmengewirr am Fuß der Akropolis lärmend: Er erreicht in der Unterstadt die Agora. Sie ist Versammlungsort und Marktplatz zugleich, Athens Mittelpunkt. Ein langgestreckter Platz, etwa hundert mal zweihundert Meter groß, an dem Tempel und Säulenhallen stehen. Die Agora ist ungepflastert und ein mut Kies belegter Prozessionswegs, die Panathenäenstraße, durchzieht sie diagonal.
An der Südwestecke der Agora stehen die Verwaltungsgebäude, während ihr Ostteil ein Labyrinth ungezügelten Unternehmertums bildet: Verkaufsstände und Handwerkerbuden besetzen jeden Meter. Ehemalige Kleinbauern machen jetzt ihr Geld als Gewerbebetreibende. Auf Bänken liegen goldene Ketten und Armbänder, Nadeln und Broschen, Haufen von Kleidungsstücken, Obst, Blumen, Stoffe, Bücher und Kochgeschirr werden hier angeboten, auch Wein in Schläuchen und Myrtenkränze für Bestattungen. Alles und jedes kann man auf dem Markt, sogar Gerichtsvollzieher und Zeugenaussagen, wie der Dichter Eubolos in einer seiner Komödien feststellt.
Sklaven werden auf der Agora einmal im Monat versteigert. Es sind meist Männer und Frauen, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten, die in Kriegsgefangenschaft gerieten oder auf einer Schiffsreise Piraten in die Hände fielen, den gefährlichsten Sklavenhändlern. Die nackt angebotenen Kaufobjekte haben einen ähnlichen Stellenwert wie das Großvieh, die "Starkfüße", und heißen "Menschenfüße". Zum überwiegenden Teil stammen sie aus Barbarenländern. Aber auch ein Grieche kann im Prinzip Sklave werden, wie ja selbst Plato und Diogenes vorübergehend erfahren müssen.
Doch nicht nur Sklaven, auch zahllose Freie bieten ihre Arbeitskraft an. Zwischen die Menge schieben sich schließlich noch die Händler, meist arme Leute vom Land. Schon in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden sind sie auf Esels- oder Maultierkarren gekommen und preisen nun schreiend ihre Waren an.
Die freie Marktwirtschaft bleibt nicht vollkommen unkontrolliert. Städtische Aufseher passen auf, dass kein Kunde übers Ohr gehauen wird. Gegen betrügerische Händler verhängen sie auf der Stelle hohe Geldstrafen.

Wie an jedem Morgen besorgt Diodoros auch heute alles, was seine Familie zum Abendbrot braucht, zur Hauptmahlzeit des Tages. Das Einkaufen ist die Arbeit, die er seiner Frau abnimmt. Die Achtzehnjährige, mit ihrem einunddreißigjährige Mann seit drei Jahren verheiratet, ist eine Art Sklavin auf dem Thron. Sie lebt gefangen in ihrem Haus, ist dort aber nicht ohne Macht. Sie beaufsichtigt die Sklaven, erledigt den umfangreichen Haushalt, stellt aufwendige Web- und Spinnarbeiten her und zieht die beiden Kinder groß. Der zweijährige Sohn soll eines Tages in die Schule gehen, die vor kurzem geborene Tochter dagegen wird ihre Kindheit zu Hause bei der Mutter verbringen. Diodoros weiß noch nicht, ob er sich einmal einen Hauslehrer leisten wird, damit auch das Mädchen lesen und Schreiben lernt. An diesem Vormittag interessiert ihn nur, was am Abend auf den Tisch kommen soll.
Diodoros' Lieblingsessen ist Spanferkel mit Erbsenbrei. Auch Fleisch vom Schwein mag er gern, und Thunfisch sowie Ziegenmilch und -käse schätzt er. Heute mietet sich Diodoros drei Sklaven, denn er kauft reichlich ein. Am Abend erwartet er Gäste. Mit dem, was er feilschend erstanden hat, schickt er die Laufburschen zu sich nach Hause.
Jetzt endlich kann er sich um das kümmern, weshalb er die Agora so liebt und so braucht: die neuesten Nachrichten. Ist diese Woche die Getreideversorgung gesichert? Zwei Drittel der Grundnahrungsmittel müssen übers Meer herbeigeschafft werden. Piraten, Stürme und Großhändler treiben manchmal die Preise hoch und ärmere Menschen an den Rand einer Hungersnot. Noch interessanter, neben Pferdezucht und Boxsport: Die Affären der Volksführer mit leichten Jungen oder Mädchen.
Fragend, zuhörend und erzählend verbringt Diodoros den Rest des Vormittags zwischen Säulenhallen, auf Tempelstufen und neben den Brunnen mit frischem Waser. Diese für die Agora typische Mischung aus Sehen und Gesehenwerden, aus Klatsch und Philosophie wird von den Athenern auch weinloses Symposion genannt. Bei schlechtem Wetter verlegt Diodoros sein Treiben in die Läden und Buden. Dann schaut er zum Salbenhändler hinein, zum Schuster und in die Bildhauerwerkstatt. Niemals aber läßt er die Stube des Barbiers aus, den wichtigsten Umschlagsplatz für politische und vermischte Nachrichten. Hier trifft Diodoros die meisten seiner Freunde.

Am Mittag ißt Diodoros an einem Imbißstand eine gebratene Wurst, dann kauft er ein paar Feigen und geht zum Gymnasion, wörtlich dem Ort der Nacktheit. Sechs dieser öffentlichen Sportstätten gibt es in Athen. Unter der Aufsicht von Trainern können Bürger hier am Breitensport teilnehmen. Diodoros übt heute im Diskuswerfen, später läuft er einige Runden und kühlt sich in einem Wasserbecken ab. Ein Masseur rubbelt ihn anschließend warm und reibt ihn mit parfürmiertem Olivenöl ein.
Gegen abend spielt Diodoros einige Würfelpartien und hört einem älteren Philosophen zu, der einer kleinen Gruppe von Männern seine Sicht des Weltgeschehens erläutert.
Bei Sonnenuntergang ist Diodoros wieder zu Hause. Rechtzeitig zum Symposion, dem Trinkgelage, zu dem er seine Freunde eingeladen hat. In dem eigens dafür vorgesehenen Raum, dem Andron, auf Liegend ruhend, den Arm halb aufgestützt, trinken die Männer verdünnten Wein und ergötzen sich an den Darbietungen von Tänzerinnen und Flötenspielerinnen. Zwei Gäste steuern selbst zur Unterhaltung bei, indem sie zur Begleitung der Lyra singen und selbstverfaßte Gedichte vortragen.
Dann bittt Diodoros zur Ruhe. Er möchte mit seinen Freunden das jüngste Gerücht erörtern, das er am Vormittag aufgeschnappt hat. Angeblich will Perikles die Reichen wieder einmal mit einer Sonderabgabe belasten. Um die Akropolis umzubauen, heißt es. Die Rede ist von einem Parthenon und von Propyläen. Doch die Freunde beruhigen Diodoros. Hat er denn den Seebund vergessen, in dem sich Athen und seine Vielzahl anderer Städte zu einer Allianz gegen Persien zusammengeschlossen haben? In die Kasse des Bündnisses müssen die Verbündeten Jahr für Jahr große Summen für den Bau von Kriegsschiffen einzahlen. Die Gelder liegen seit dem zwei Jahren in Athen, in einem Tempel der Göttin Athene.
Tempel sind nicht nur Heiligtümer. Weil sie als unantastbar gelten, diesen sie zugleich als Depositenbank zur Hinterlegung von Schätzen und als Kreditinstitut. Braucht der attische Staat Geld zu besonders niedrigen Zinssätzen, dann nennt er seine Kreditaufnahme "bei den Göttern leihen".
Wie einer der Gäste berichtet, ist der Dichter Sophokles neuer Schatzmeister des Attischen Seebundes geworden. Da er jahrlang von Perikles gefördert worden ist, drückt er jetzt beide Augen zu, als der Staatschef den Verteidigungshaushalt missbrauchen will. Unter dem zustimmenden Gelächter der übrigen Gäste jubelt einer der Männer: "Bei Zeus, warum soll Perikles nicht die größten und teuersten Architekten bezahlen, um die Akropolis in ein Weltwunder zu verwandeln? Solange er dazu die Gelder fremder Städte einsetzt!"
Diodoros dagegen missfällt, was er da hört. "Hat Perikles nicht gelobt, die Ruinenstätte in ihrem zu belassen, als Mahnmal an die Zerstörung durch die Perser?", fragt er empört. Die Männer debattieren noch eine Weile, dann spielen sie Kottabos. Jeder muss versuchen, schwungvoll dei Neige aus dem Becher auszugießen und ein vereinbartes Ziel zu treffen.
Eine halbe Stunde später ziehen sich die Künstlerinnen aus. Die übliche Orgie beginnt. Allzu lnage dauert sie nicht. Maßhalten in jeder Lebenslage zeichnet die Herren von Welt aus. Die Nacht zum Tage machen, ist verpönt. Auch deshalb, weil die Straßenpolizei ihren Dienst bei Sonnenuntergang beendet. Denn jeder weiß: Nur wer mit halbwegs klarem Kopf seine Fackel trägt, schafft den Weg durch die dunklen Gassen nach Hause. Falls er nicht überfallen wird.

Ende

#1 - Ca. 1 Meter
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"If the biggest problem that you're having in the twenty-first century involves
what other people's genitals look like, and what they're doing with those genitals
in the presence of other consenting adults, you may need to reevaluate your
priorities." - Forrest Valkai


("Wenn das größte Problem, das du im 21. Jahrhundert hast, darin besteht, wie
anderer Leute Genitalien aussehen und was diese damit in Gegenwart anderer
Erwachsener mit deren Einverständnis machen, musst du möglicherweise deine
Prioritäten neu bewerten.")

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Re: Sacra Tibia: Hexagon - Der unsichtbare Mann

Beitragvon almafan » Di 6. Jun 2023, 00:04

Jerusalem

niedergeschrieben von Hexagon

im 11. Jahr der Herrschaft Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus, Sohn des Gnaeus Domitius Ahenobarbus und Iulia Agrippina, der Schwester des Kaisers Caligula, über die weibliche Linie ein Ururenkel des Kaisers Augustus
im Jahre 818 nach der Gründung Roms
im Jahre 388 nach dem Tode Alexander des Großen
im Jahre 1 nach dem großen Brand von Tiber

Die Niederschrift im Jahr meiner Expeditionsbeteiligung in der Provinz Syrae

Wir treten durch das wuchtige Tor und befinden uns mitten in einer Stadt des verheißenen Messias. Wie so viele Städte liegt sie auf einer Anhöhe. Auf dem Hügel über uns erhebt sich die Oberstadt. Dort, im Viertel der Reichen, glänzen etliche luxuriöse weiße Villen in der Sonne, viele davon mit ummauerten Gärten. Weiter unten entdecken wir andere Häuser unterschiedlicher Größe und Bauart. Hier lebt die Mittelschicht. Die großen, mehrgeschossigen Steinhäuser der Kaufleute und Landbesitzer säumen gepflasterte Straßen. Ganz unten befinden sich die tristen grauen Häuser der ärmeren Leute. Kleine, verschachtelte Bauten, dicht gedrängt entlang enger Gassen oder um winzige Innenhöfe herum.

Wir zwängen uns durch vollgestopfte Straßen und Gassen und nehmen die unterschiedlichsten Geräusche und Gerüche wahr. Von den Kochstellen der Frauen steigen verführerische Düfte auf. Wir hören das Brüllen und Blöken von Tieren und das Lachen spielender Kinder. In stickigen Werkstätten voller Lärm sind Männer eifrig beschäftigt.
Für die Familien sind diese Häuser der Mittelpunkt des Alltags. Dort spielt sich ihr tägliches Leben ab, dort beten sie gemeinsam.

Die kleinsten Häuser bestehen aus einem einzigen, engen, dunklen Raum, in dem eine ganze Familie leben muss. Oft werden diese Häuschen aus sonnengetrockneten Lehmziegeln errichtet oder aus unbehauenen Natursteinen. In der Regel steht das ganze auf einem Fundament aus Stein.
Die Innenwände sind verputzt und der Boden mit Steinen ausgelegt. Beides muss ständig ausgebessert werden. In der Decke oder in einer Wand gibt es mindestens eine kleine Öffnung, um den Rauch der Kochstelle abziehen zu lassen. Die Ausstattung beschränkt sich auf eine Handvoll unentbehrliche Gebrauchsgegenstände.
Das Dach besteht aus Holzbalken, Sparren, Schilfgeflecht und Zweigen und ist mit einer Lehm- oder Erdschicht abgedeckt. Als Stützen dienten Holzpfosten. Der festgedrückte Lehm wird verputzt, sodass eine einigermaßen wasserdichte Fläche entsteht. Wer auf das Dach will, klettert eine Außenleiter hinauf.
Trotz solcher bescheidenen Verhältnisse bieten diese Häuser den Bewohnern mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Die Familien, die hier leben, besitzen nicht viel, sind meist aber sehr stark in ihrem Glauben.

Größer sind die zweigeschössigen Steinhäuser der Mittelschicht. Sie verfügen über ein geräumiges Gastzimmer im Obergeschoss. Es bietet Platz für religiöse Zusammenkünfte und wird oft für Feierlichkeiten genutzt. Diese Häuser und die noch größeren der Kaufleute und Landbesitzer sind aus Kalksteinblöcken und Kaltmörtel gemauert. Der Boden ist gepflastert und mit Estrich versehen. Die Innenwände sind verputzt, die Außenwände weiß gekalkt.
Über eine Treppe gelangt man zu den oberen Räumen und auf das Dach. Alle Flachdächer sind von einer Brüstung umgeben, um Unfällen vorzubeugen. Unter einem einfachen Sonnenschutz kann man auf dem Dach während der heißen Stunden des Tages bestens studieren, nachdenken, beten oder ausruhen.
In diesen soliden Häusern mit einem großzügen Wohnbereich, separaten Schlafräumen und einem größeren Koch- und Essbereich leben nicht selten mehrere Generationen gleichzeitig.

Aussehen, Größe und Bauweise der Häuser im römsichen Stil unterscheiden sich beträchtlich. Doch in der Regel sind große Zimmer um einen geräumigen Speisebereich, dem sogenannten Triclinium, angeordnet. Der Mittelpunkt des Familienlebens. Manche dieser Häuser sind sogar dreigeschossig und besitzen schöne, ummauerte Gärten.
Die besseren dieser Häuser sind wahrscheinlich gut ausgestattet, unter anderem mit kunstvoll gearbeiteten Möbeln, teilweise mit Intarsien aus Gold und Elfenbein. Es gibt sogar fließendes Wasser und Badezimmer. Möglicherweise besteht der Fußboden aus Holz oder aus verschiedenfarbigen Marmor und die Wände sind mit Zedernholz getäfelt. Kohlenbecken sorgten für Wärme. Zur Sicherheit sind an den Fenstern Gitter angebracht, meist aus Holz. Gardinen halten neugierige Blicke fern. Und an den Fenstern sind aus den dicken Steinwänden Sitzbänke herausgearbeitet.
Ganz gleich wie groß oder klein das Zuhause der Jerusalemer ist: Viele haben stets eine offene Tür und teilen gern mit anderen. Reisende Prediger finden immer eine herzliche, gastfreundliche Familie, bei der sie bis zum Ende ihres Besuchs in dem Ort oder in der Stadt bleiben können.

Auch Jesus wurde hier aufgenommen. Im Haus des Simon und Andreas wurde er als Gast herzlich willkommen geheißen. Das Haus dieser Fischer gehörte vielleicht zu einer verschachtelten Ansammlung bescheidener Bauten, die sich dicht an dicht um einen gepflasterten Hof drängten.
Die Türen und Fenster solcher Häuser gehen auf ejnen Hof, auf dem sich meist das tägliche Leben abspielt. Dort wird gekocht, gebacken, Getreide gemahlen, man redete und aß miteinander.
In Kapernaum errichtet man eingeschossige Häuser aus unbehauenen Basaltblöcken, einem lokalen Vulkangestein. Außentreppen führen auf Flachdächer, die aus Holzbalken, Sparren und Schilfgeflecht bestanden und mit gepresstem Lehm oder Fliesen bedeckt sind. Die Fußboden dieser Häuser sind gepflastert und häufig mit gewebten Matten ausgelegt.
Die dicht beieinander stehenden Häuser bilden Straßen und Gassen am Ufer des Sees Genezareth. Kapernaum ist der ideale Wohnort für Fischer.

Insgesamt gesehen sind die Wohnhäuser hier nicht weniger unterschiedlich als anderswo. Von einfachen Lehmziegelhäusern mit nur einem Raum bis zu großen, luxuriösen Steinvillen.
Alle diese Häuser bieten den Familien weit mehr als nur ein Obdach. Sie sind auch Orte der Unterweisung im jeweiligen Glauben. In ihren vier Wänden können die Familien in Ruhe gemeinsam zu ihrem Gott beten. Dort kommen sie auch mit anderen Gleichgesinnten zusammen, um ihre Schriften zu studieren und sich gegenseitig zu stärken. Natürlich gehen sie auch in ihren Tempel, dies jedoch nicht täglich und nur für eine bestimmte Zeit. Doch im eigenen Haus gibt einen Altar, mit kleinen Statuen und Kerzen und Tellern, auf denen kleine Opfer dargeboten werden.

Die Religionen in diesem Schmelztiegel der verschiedenen Kulturen sind stark durch die jüdischen Gemeinden überzeichnet und die starke Ausprägung auf diesen einen Glauben lässt andere Kulturen nur in kleinerem, meist privatem Kreis zu. Anders als im restlichen rhomäischen Reich.
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