Der Tag an dem ich starb




Unterhaltungsliteratur in ihren verschiedenen Formen, wie beispielsweise Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Berichte, Märchen und Sagen

Der Tag an dem ich starb

Beitragvon vlindertje » Sa 5. Mai 2012, 21:24

Kapitel I

"... Ein Name ist besser als gutes Öl und der Tag des Todes als der Tag, an dem man geboren wird. Besser ist es, in das Haus der Trauer zu gehen, als in das Haus des Festmahls zu gehen, denn das ist das Ende aller Menschen; und der Lebende sollte (es) sich zu Herzen nehmen. Besser ist Verdruß als Lachen, denn durch die Verdrossenheit des Gesichts wird das Herz besser. Das Herz der Weisen ist im Haus der Trauer, aber das Herz der Unvernünftigen ist im Haus der Freude.

Besser ist es, das Schelten eines Weisen zu hören, als der Mann zu sein, der das Lied der Unvernünftigen hört. Denn wie das Geräusch von Dornen unter dem Topf, so ist das Lachen des Unvernünftigen; und auch das ist Nichtigkeit. Denn allein Bedrückung kann bewirken, daß ein Weiser unsinnig handelt, und eine Gabe kann das Herz vernichten.

Besser ist das nachherige Ende einer Sache als ihr Anfang. Besser ist einer, der geduldig ist, als einer, der hochmütigen Geistes ist. Sei nicht eilig in denen Geist, gekränkt zu werden, denn sich gekränkt zu fühlen ruht im Bussen der Unvernünftigen.

Sprich nicht:"Weshalb ist es geschehen, daß sich die früheren Tage als besser erwiesen haben als diese?", denn nicht zufolge von Weisheit hast du danach gefragt. ..."

Langsam und nachdenklich schlägt sie das Buch zu. Manchmal wollte auch sie tod sein. Sie sitzt auf dem Boden, mit dem Oberkörper an ihr Sofa gelehnt. 'Der Tag des Todes (ist besser) als der Tag, an dem man geboren wird.' Immer wieder wiederhallen diese Worte in ihrem Kopf. 'Der Todestag ist besser, als der Tag der Geburt.' Nach und nach läßt sie sich auf den Boden sinken, bis sie den weichen weißen Flur unter ihrem ganzen Körper wahrnehmen kann. Ihre Hände graben sich leicht in die langen Fasern ihres wuschligen Teppigs. Ihr Blick ist starr an die Decke gerichtet. Leichtes flimmern macht sich vor ihren Augen breit, während sie ihren Blick an ihrer Zimmerdecke haften läßt.

Wer hat denn schon Ahnng von dem Tod? Was bedeutet es zu sterben? Wie fühlt es sich an? Was denkt man in so einem Moment, wenn das Leben zu Ende geht? Manch einer meint, daß man bei jedem Ende an dessen Anfang denkt. Ist dies wirklich der Fall? Falls ja, wo ist denn der Anfang und vor allem, der Anfang wovon? Erinnert man sich wirklich nur der schönen und besonderen Augenblicke oder auch all derer, die man als leidvoll und vergessenswert einstufte? Was fühlt man, wenn man stirbt? Durchlebt man Schmerzen? Sucht man die Nähe zu einem geliebten Menschen oder möchte man allein sein? Stellt man sich gefaßt und gelassen seinem unabänderlichen Schicksal oder hat man Angst und möchte man fliehen?

Inzwischen hat sie es sich auf dem Fußboden bequem gemacht. Ihr Blick ist noch immer starr zur Decke gerichtet, doch das Flimmern vor ihren Augen ist gewichen. Sie liegt auf dem Rücken, beide Arme jeweils leicht zur rechten beziehngsweise linken Seite ausgerichtet. Ihre angewinkelten Knie hat sie inzwischen zur ihrer Rechten absinken lassen, so daß diese jetzt den Boden berühren. So, wie sie jetzt daliegt, hätte es ihrem Freund sicher gefallen sie zu sehen. Mit ihren blauen Hotpans und dem engem weißen Top gefiel sie ihm gut. Da ihr, trotz frühlingshafter Temperaturen etwas frisch geworden war, hatte sie sich sein Hemd übergeworfen. Ja, sie würde ihm so gefallen, daß wußte sie, doch er ist nicht da. Sie liegt auf dem Boden ihrer Wohnung, allein und in aller Stille.

'Der Tag des Todes ist besser als der Tag der Geburt.' Noch immer kleben ihre Gedanken an diesen Worten, die sie soeben gelesen hatte. Sie kennt beides. Noch sehr gut kann sie sich an den Tag der Geburt erinnern. Den Tag seiner Geburt. Der Geburt ihres Kindes. Drei Tage nach dem errechnetem Geburtstermin, ja, einen Tag bevor er das Licht der Welt erblickte, hatte sie ihm einen Brief geschrieben; nicht ganz vollendet aber ein Versuch alles festzuhalten. Worte, mit Bleistift danieder geschrieben, Worte , die er nie lesen, die er nie zu hören bekommen wird. Dieser Zettel, eine Blattseite voll, bekleckert vor einiger Zeit, mit vermutlich einem Schluck Tee, liegt neben ihr auf dem Boden.

'Heute ist der siebenndzwansigste September. Dein errechneter Geburtstermin war vor drei Tagen, am vierundzwansigsten September 2008. Papa und ich sind so neugierig,, dich endlich in unseren Armen zu halten. Wir freuen uns af dich. Ich bin auch ziemlich kugelrund. Aber bald ist es ja so weit. Wie der Doktor gestern sagte, geht es dir recht gut und auch ich fühle mich gut. Mit Papa zusammen war ich noch jeden Tag länger spazieren. Gestern Abend hab ich es mir in der Dusche gemütlich gemacht - so im Wasser sitzend, im Kerzenschein. Papa hat mir dann noch einen Tee gebracht und ich blätterte bnte Zeitungen durch. Es war sehr gemütlich. Heute morgen haben wir das Auto zur Reperatur in die Werkstadt gebracht - nichts schlimmes - und sind dann zu Papas alter Wohnung und weiter ins Krankenhaus spaziert. Da du sozusagen drei Tage "Verspätung" hast, sollte zur Kontrolle ein CTG (Cardiotokographie) geschrieben werden. Dafür werden zwei runde Dinge auf meinem Bauch gelegt, welche mit Kabeln an einer Maschine befestigt sind. Diese Maschine mißt die Wehentätigkeit und deine Herzfrequenz. Zu unserer Überraschung sank deine Herzfrequenz immer dann, wenn die Wehentätigkeit anstieg. Da dies die Ärztin und die Hebamme, Ines, nicht so gut fanden, versuchte die Ärztin dich vaginal zu ertasten, was leider nicht gelang. Auf dem Ultraschallbild sahen wir dann auch warum. Du hast dich einfach noch einmal gedreht. Plötzlich lag dein Kopf auf der rechten Seite, dein Rücken an meinen Rippen gepreßt. Tja, so kommst du aber leider nicht von selbst aus dem Bauch. Daher mußten wir uns nun ernsthaft mit dem Gedanken an einen Kaiserschnitt (Sectio) gewöhnen. Man sagte, daß du nicht lange so liegen bleiben dürftest und man dich daher per Kaiserschnitt zur Welt bringen müßte. Dieser Gedanken löste in Papa und mir sehr viele verschiedene Gedanken und Gefühle aus.'

Eine Träne, die zuvor ihre Wangen herunter lief, berührt den Boden. Immer und immer wieder hat sie die wenigen Zeilen des Briefes gelesen. In solchen Momenten fühlt sie sich, als würde sie alles noch einmal durchleben. Sie möchte stark sein und nicht weinen, doch es ist zu spät. Diese, mit Bleistift geschriebenen Worte, an dem Tag, bevor ihr Sohn geboren wurde im Zusammenhang mit den Worten des Buches, welche sie gerade gelesen hat, berühren sie zu sehr.

'Der Tag der Geburt war so bedeutend, so beängstigend und faszinierend zugleich. Inwiefern kann der Tag des Todes dann besser sein? Gibt es denn einen erhabeneren Moment, als den, daß ein neuer Erdenbürger das Licht der Welt erblickt?' Bis vor einer Weile hätte sie es für unmöglich gehalten und noch immer ist sie sich nicht ganz sicher. Geburt bedeutet Leben und kennzeichnet einen Beginn. Tod bedeutet ein Ende, ein unveränderliches Ende. Dies sind zwei so große Gegensätze. Über den Tag der Geburt wird viel und oft gesprochen, über einen Todestag nicht. während sie weiter an die Decke start, rollen ihr immer wieder neue Träne unkontrolliert und leise über ihre Wange und die Frage des "Warum" nimmt sie gefangen.

Warum gedenkt man im Allgemeinen jedes Jahr des Tages der Geburt, sei es der eigenen oder der eines anderen Menschen, der einem nahe steht? Wieso gedenkt niemand dem Tag, des Todes? Wieso bestehen in unserer Gesellschaft so viele Berührungsängste, was Tod und Sterben betrifft? Früher war dies anders. Sterben und Tod gehörte genau so zum Leben, wie die Geburt eines Kindes. Im Mittelalter wußte man selten den genauen Tag der Geburt, wohl aber den Tag, an dem jemand verstorben ist. Das Jahr war nicht immer bekannt, doch man gedachte jedes Jahr, an dem Tag, an dem der geliebte Mensch gestorben ist, seines Lebens, seines Daseins, seines Sterbens, seines Todes. Heute, so ihre Meinung, haben Menschen Angst über den Tod oder einen Verstorbenen zu sprechen, weil sie dadurch immer wieder an ihr eigenes Ende erinnert werden. Warum eigendlich? Wieso besetehen diese Berührugsängste und weswegen sieht man den Tod nicht als einen Teil des Lebens, wie die Geburt?

Sie ist eingeschlafen. Einige Stunden sind vergangen - vielleicht zwei oder drei. Ihr ist kalt. Das Wetter ist inzwischen umgeschlagen und dichte Wolken sind aufgezogen. Sie sieht in Richtung der offenen Balkontür. Sie blickt auf den Zettel neben sich, auf das Buch. Sofort fallen ihr die Worte ein, die sie gelesen hat, bevor sie eingeschlafen ist. Sie weiß, sie sollte sich aufraffen und den Balkon schließen, doch sie hat kaum Elan sich zu bewegen. Noch immer ist sie kraftlos. Die Frage danach, was den Tag des Todes denn so viel besser macht, als den Tag der Geburt kreist ihr durch den Kopf. Sie weiß, daß man im Mittelalter den Tag der Geburt als den begin des Leidens sah und dementsprechend den Tag des Todes wahrscheinlich als den Tag, an dem man von allem Leid erlöst wird. Ist dies noch immer so? Ist der Tag des Todes, der Tag der Erlösung? Sie kann es nicht glauben - nicht nach all dem, was sie gesehen hat. Der Todeskampf, den sie mit ansehen mußte, schien in ihren Augen keine "angenehme Art der Erlösung" zu sein. Außerdem ist das Leben an sich doch schön.

Leise schließt sie die Tür des Balkons. Ein Regenschauer macht sich vor ihrem Fenster breit. Der Tag , an dem jemand stirbt ist in sofern besser, so erklärte man ihr früher, daß man zu diesem Zeitpunkt kein unbeschriebenes Blatt mehr ist, wie an dem Tag, an dem man geboren wurde. Man hat eine Menge erlebt. Man hat sich einen Namen gemacht, einen Ruf aufgebaut und vielleicht so einiges mehr. Man selbst und die lieben Freunde, die man auf dem Erdenrund zurückläßt, können das Leben der Sterbenden Person oder der bereits verstorbenen betrachten. Nur so, ihre Meinung, kann es gemeint sein, daß 'ein Name (besser ist) als gutes Öl und der Tag des Todes als der Tag, an dem man geboren wird.'

Noch immer steht sie hinter den Scheiben des Balkons und betrachtet schweigend das stürmische Treiben. Ihre sanfte Stimme durchschneidet auf einmal die Stille des Raumes.: "Was, wenn der sterbende Mensch nie die Gelegenheit hatte, sich einen Namen zu machen, einen Ruf aufzubauen, etwas zu erreichen?" Sie senkt ihren Kopf und lehnt ihn gegen das kühle Fensterglas. Erneut steigen Tränen auf und sie bemüht sich krampfhaft diese zu unterdrücken. 'Was, wenn man nie eine Chance bekam zu leben; wenn das Leben zu Ende geht, bevor es so richtig beann? Was, wenn der Mensch den man gehen lassen muß, das eigene Kind ist?'
"Nichts ist entspannender, als das anzunehmen, was kommt." Dalai Lama
Benutzeravatar
vlindertje
Fürst
Fürst
 
Beiträge: 256
Registriert: Di 21. Jun 2011, 15:04

von Anzeige » Sa 5. Mai 2012, 21:24

Anzeige
 

Zurück zu Belletristik


Wer ist online?

0 Mitglieder

cron