Kapitel LI
Keiner der beiden sprach. Es wirkte so, als befürchteten sie, dass Eric noch wütender auf sie sein würde, wenn sie seine Frage beantworteten.
„Ich weiß, dass ihr aus dem Schrank gegangen seid!“ meinte er und musterte die beiden eindringlich.
„Tut mir leid!“ kam leise von Stevie und sie sah beschämt zu Boden.
Brandon legte seine Hand auf ihre Schulter. Eine Geste, die von Eric nicht unbemerkt blieb.
Und auch wenn er dazu kein Wort sagte, so sprach sein Blick Bände.
„Ich weiß, wo du wohnst.“ meinte Brandon auf einmal und holte den Brief hervor, den er aus dem Zimmer hatte mitgenommen.
Eric biss die Zähne zusammen und verhinderte so, dass er sich laut über die Dummheit der beiden ausließ.
„Ist das alles?“ wollte er dann wissen. Er rührte sich nicht vom Fleck.
Stevie nickte nur.
Brandon rollte kurz mit den Augen und ging an Stevie vorbei in Richtung Schreibtisch. Er legte den Brief einfach darauf ab. Direkt neben Eric.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich wieder um und setzte sich auf das Bett.
Eric sah auf den Brief und dann auf Brandon.
Innerlich war er ein wenig hin und her gerissen. Wenn die Adresse auf dem Brief stimmte, so hatte er nun einen Anhaltspunkt an den Ort, wo er wohnte. Doch würde er sich dort wirklich finden? Oder wollte er sich überhaupt finden?
Er wusste es nicht.
Er schloss kurz die Augen. Atmete tief durch und blickte dann Brandon ernst an.
„Wir sind da!“ verkündete er.
Brandon zog verwundert die Augenbrauen hoch.
„Bei meiner Mutter?“ hakte er nach.
Erst nickte Eric, doch dann meinte er, sie seien zumindest in der selben Stadt, wie die Mutter von Brandon.
„Kannst du etwa direkte Adressen ansteuern?“ wollte Brandon irritiert wissen.
Nun war es Eric, der mit den Augen rollte.
„Wenn´s nur so einfach wäre.“ meinte dieser dann, „Stevie und ich sind vor ungefähr zweieinhalb Monaten hier durchgereist.“
Stevie, die noch immer wie angewurzelt an Ort und Stelle stand, warf wieder einen Blick zu ihrem blonden Freund.
„Wo sind wir dann?“ war Brandon´s nächste Frage.
„Calgary! Nahe des Towers!“ antwortete Eric und erfreute sich Brandon´s verdutzten Gesichtsausdruck.
„Warum sollte ich dir dann sagen, wo meine Mutter wohnt, wenn du uns nicht direkt hinbringen kannst?“
Eric rollte erneut genervt mit den Augen.
„Hey, ich bin weder Taxifahrer noch irgendein Reiseplaner. Ich kenn doch nicht jede Adresse!“ brummte er Brandon an, „Ich hab kein Geister-Navi eingebaut!“
Stevie schmunzelte kurz, von beiden Männern unbemerkt.
Dann aber versuchte sie die Sache zu entschärfen, in dem sie Brandon einfach fragte, ob er sich in der Stadt auskenne und sie so zu seiner Mutter kommen würden.
„Ich war noch nicht in allen Teilen der Stadt.“ gab Brandon zu, „Aber ich schätze, irgendwie kann ich uns hinführen.“
Stevie nickte und ging zum Schrank um sich eine Jacke herauszusuchen.
„Warum eigentlich müssen wir zu meiner Mutter?“ Brandon klang wie ein kleiner Junge, der Angst vor seiner Mutter hatte, nur weil er irgendetwas dummes angestellt hatte.
„Wir brauchen einen sicheren Ort und einen kostenlosen Schlafplatz!“ antwortete Eric und erntete eine hochgezogene Augenbraue von Stevie.
„Gut! Ihr braucht einen kostenlosen Schlafplatz!“ korrigierte Eric.
„Toll.“ kam leise und ein klein wenig gereizt von Brandon.
Er hatte nicht wirklich Lust zu seiner Mutter zu gehen. Und das lag nicht nur daran, dass er vergessen hatte, sie in den letzten Tagen anzurufen.
Stevie hatte sich eine Jacke und auch ein paar Schuhe angezogen und wartete eigentlich nur noch darauf, dass Brandon vorausging.
Noch immer schien er allerdings wenig von dem Ausflug begeistert zu sein.
Brandon hatte sich ebenfalls eine Jacke über gezogen und war, wenn auch ein wenig widerwillig zur Tür geschritten.
Er sah noch einmal kurz zu Stevie. Sein Blick machte seinen Unmut deutlich.
„Wird schon nicht so schlimm.“ flüsterte sie ihm zu und öffnete die Tür.
Wells hielt Ausschau nach Stevie, wie sich das Mädchen nun nannte. Im Grunde kannte er ihren richtigen Namen nicht.
Sie vermutlich auch nicht, glaubte er.
Es war nicht das erste Mal, dass er hinter ihr her war. Aber hoffentlich das letzte Mal.
Sie raubte ihm die Nerven. Oder vielmehr raubte ihm die Jagt nach ihr die Nerven.
Das erste Mal hatte er sie vor fünfzehn Jahren gesehen. Sie war noch ein kleines Kind. Im Grunde hatte er sie zufällig getroffen, wenn man dies so nennen konnte.
Er hatte für einen anderen Mandaten nach einem Kind gesucht und war dabei in der Einrichtung gelandet, in der man sie versteckt hatte.
Ganz kurz hatte er einen Blick auf sie erhaschen können und war verwundert, denn sie schien weder so recht in die Abteilung der psychisch Kranken zu passen, noch überhaupt dorthin zu gehören.
Neugierig hatte er eine Schwester ausgefragt, die ihm nicht viel sagen konnte.
Man habe das Mädchen gebracht und niemand hatte sich bisher nach ihr erkundigt. Ebenso wenig schien das Kind nach irgendwem zu fragen.
Wells war damals fast eine Woche in der Klinik gewesen. Zum Teil, weil er genauere Erkundigungen nach dem vermissten Kind seines Mandanten machen wollte. Er hatte sich als Pfleger ausgegeben und konnte so ungehindert in fast jedes Zimmer gelangen.
Gerade als er in das Zimmer der kleinen Stevie wollte, hielt man ihn auf.
Niemand dürfte zu ihr gehen. Den wahren Grund nannte ihm niemand.
Nach einer kurzen Weile interessierte er sich nicht mehr für das Mädchen. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte und konnte seinem Auftraggeber stolz verkünden, was er in Erfahrung hatte bringen können.
Was genau aus dem Mädchen wurde, was sich später Stevie nannte, wusste Wells nicht. Er wusste lediglich, dass Doyle, sein jetziger Auftraggeber, irgendetwas mit ihr zu tun hatte.
Das kleine Treffen oder vielmehr Beinahetreffen zwischen ihm und Stevie hatte Wells so gut wie vergessen.
Zumindest bis er sie hatte zum zweiten Mal getroffen.
Er wusste nicht mehr, wann genau das war.
Sie war nun älter und hübscher geworden. Und dennoch erkannte er das kleine Mädchen aus der Klinik in ihr wieder.
Stevie schien auf der Flucht zu sein oder einfach nur rastlos.
Seiner Schätzung nach war sie gerade Mal vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und schien seit einer Weile weder richtig geschlafen noch gegessen zu haben.
Er selbst hatte den Tag frei, wenn man es so nennen konnte, und hatte das Mädchen dabei beobachtet, wie sie auf dem Bahnhof von Nanaimo umher schlich und ein oder zwei Brieftaschen ihren Besitzern stahl.
Wells hatte sehen können, dass sie dies wohl schon einige Male getan haben musste, denn sie stellte sich dabei nicht ungeschickt an.
Neugierig hatte er sie weiter beobachtet. Gesehen, wie sie das Geld aus den Brieftaschen genommen und die Geldbörsen dann einfach in den Mülleimer geworfen hatte.
Anfangs hatte es nach einer kleinen aber beträchtlichen Summe ausgesehen, die Stevie hatte zusammen gestohlen. Doch dann riss sie jemand zur Seite und auch wenn er selbst nicht hören konnte, was man zu Stevie sagte, so erkannte er schnell, was vor sich ging.
Das Mädchen arbeitete für jemand anderen. Und dieser jemand nahm ihr das ganze Geld ab und lies ihr lediglich einen Zehner. Für ihren Protest deswegen, bekam sie eine saftige Ohrfeige.
Niemand drumherum schien sich für das Mädchen und die ältere Frau, die sie beschimpfte, zu interessieren.
Wells hatte eine Weile dem Treiben zugesehen, ehe er sich wieder seiner Sachen widmete.
Er hatte zu dem Zeitpunkt auch nicht ahnen können, dass sich sein Weg und der des Mädchens so bald wieder kreuzen würden.
Das nächste Mal, dass er persönlich Stevie wieder traf war gerade mal knapp ein Jahr her.
Er selbst war zu einer großen Gala eingeladen und sollte seine Auftraggeberin begleiten sowie auch zwecks eines Handels beraten.
Wie sich das Mädchen hinein geschmuggelt hatte, wusste er nicht. Er wusste auch nicht, warum sie da war.
Seine Begleiterin war, sobald sie Stevie erblickt hatte, mehr an ihr als an dem eigentlichen Geschäft interessiert. Wells wollte fragen, was an dem Mädchen so besonders sei. Aber die Dame an seiner Seite meinte, er würde nicht für Fragen bezahlt werden.
Wells sollte das Mädchen beobachten und …
Noch ehe die Frau zu ende gesprochen hatte, war Chaos auf der Gala ausgebrochen. Aber weder er, noch die Dame an seiner Seite, noch Stevie waren der Grund dafür gewesen.
Im Grunde brach inmitten der Menge ein heftiger Streit zwischen zwei Männern aus. Der eine hatte den anderen wohl bei einem Geschäft betrogen oder hatte sich anderweitig den Zorn seines Partners auf sich gezogen. Der anfangs noch verbale Kampf der beiden Herren wurde recht schnell physischer Natur und beide Männer trugen ihren Kampf inmitten der Feierlichkeiten aus.
Und aus einem Streit zwischen zwei Männern wurde recht bald ein Schlagabtausch zwischen mehreren, da einige die beiden Streithähne trennen beziehungsweise ihnen helfen wollten.
Wells bemerkte erst wenig später, dass Stevie die Situation nutze und sich aus einer der Vitrinen einen kleinen Gegenstand herausholte.
Aber er war nicht der einzige, der den Diebstahl mitbekam. Seine Begleiterin wurde zornig und versuchte dem Mädchen hinterher zu laufen.
Im ersten Moment hatte Wells den Grund nicht verstanden. Doch Stevie hatte genau den Gegenstand gestohlen, den die Dame hatte mehr oder weniger ehrlich erwerben wollen.
Und dies bedeutete auch dass Stevie ihm nun in die Quere gekommen war. Und dies war eine Sache, die er so nicht auf sich beruhen lassen konnte.
Gemeinsam waren sie Stevie gefolgt. Doch das Mädchen schien plötzlich wie vom Erdboden verschwunden.
Wells´ Auftraggeberin hatte nun ein anderes Interesse, als an dem Schmuckstück, welches sie hatte ursprünglich haben wollen.
Sie wollte, dass er ihr das Mädchen brachte.
Wells selbst hatte noch nie seine Aufträge oder die Auftraggeber hinterfragt. Er hatte auch selten irgendetwas abgelehnt und war auch nicht gegen Gewalt geneigt.
Im Grunde liebte er seinen Beruf oder vielmehr seine Berufung.
Für eine Weile hatte Wells Stevie wieder aus den Augen verloren.
Sie war auch ein wenig schwer zu verfolgen, da sie scheinbar ohne Papiere oder Kreditkarten oder anderen elektronischen und digitalen Hilfsmitteln unterwegs war.
Hin und wieder hörte er davon, dass man sie gesehen hatte. Doch immer wieder war er zu langsam gewesen und sie schon wieder einige Städte weiter.
Wells wusste nie, warum Stevie überhaupt so rastlos gewesen war. Oder ob sie bei ihrer Reise überhaupt ein Ziel verfolgte.
Das nächste Mal, dass er ihr gegenüberstand war im Grunde noch nicht einmal zu lange her.
Und er war dabei auch nicht allein gewesen.
Doyle´s Auftrag, nach dem Mädchen zu suchen, kam später. Zumindest erhielt Wells den Auftrag erst nachdem sie in seinen Fingern gewesen war.
Wells´ Auftraggeberin hatte zwar nicht bekommen, was sie wollte. Aber der Auftrag hatte sich mit dem Verschwinden der Chefin erledigt. Wells wusste nicht, was genau passiert war und wo seine Auftraggeberin hin verschwunden war.
Doyle´s Auftrag und die hohe Summe, die er für das Auffinden von Stevie bot, reizten Wells sehr. Vor allem, da Stevie ihm nicht nur mehrfach durch die Finger geglitten war.
Nun saß er ganz in der Nähe des Waschsalons und beobachtete den FBI-Agenten Larson, den er ebenfalls von früher her kannte und seine brünette Begleiterin, wie sie das Motorrad von Stevie´s Freund bewachten.
Wells hoffte, dass er schneller als Larson war. Er wollte Doyle´s Geld und seine Rache.