Kapitel I
„Musst du hier rum sitzen?“ protestierte er.
Doch wie schon zuvor zeigte seine Schwester keinerlei Reaktion. Dies war bei ihr nichts Neues. Fast immer, wenn sie ein Buch in den Händen hielt, war sie kaum noch ansprechbar.
„Hey, du Freak!“ schimpfte er etwas lauter und stieß sie leicht mit seinem Fuß an.
„Kannst du mich nicht mal in Ruhe lassen?“ schrie sie zurück und schlug nach seinem Bein.
Im Grunde könnte man anhand dieses Streits annehmen, beide wären kleine Kinder. Doch während Adrian nun schon das einunddreißigste Lebensjahr erreicht hatte, ging seine Schwester Kayleigh langsam auf die dreißig zu.
Dennoch benahmen sie sich durchaus kindisch.
Die meiste Zeit sahen sie sich nicht, was daran lag, dass sie nicht zusammen wohnten. Allerdings welcher über dreißig Jahre alter Mann lebt mit seiner Schwester zusammen, wenn er nicht dazu gezwungen war?
Dass sie nun hier gemeinsam in einem Raum waren, lag an den circa jeden Monat stattfindenden Besuchen bei ihrer Tante Meryl. Aber sie waren nicht allein bei der Tante. Ihr Vater war mit von der Partie. Er war auch der Grund für den Besuch. Mehr oder weniger.
Früher hatten er und seine beiden Kinder für einige Zeit bei der Tante mit im Haus gelebt. Zu der Zeit war Meryls Mann Jim noch da gewesen. Bis er dann spurlos verschwand.
Seit dem Auszug von Kayleigh, Adrian und ihrem Vater lebte Meryl nun dann allein in dem großen Haus und ging kaum aus dem Haus, weswegen sie als recht verschroben galt.
Nun waren der Vater und seine beiden Kinder immer einmal im Monat zur der Tante gefahren, unter anderem um nach dem Rechten zu sehen.
Dass seine beiden Kinder fast immer bei den Besuchen dabei waren, so wie jetzt auch wieder, lag unter anderem daran, dass sie einerseits Zeit hatten und andererseits auch sie sich an die Besuchstage bzw. -woche gewöhnt hatten. Es gehörte irgendwie schon dazu!
Kayleigh saß nun wie so oft mit einem Buch in der Hand auf den Stufen der Bibliothek und Adrian wollte an ihr vorbei.
Hätte die Tante nicht die Stufen als zusätzliche Buchablage genutzt, wäre dies auch ohne weiteres möglich. Doch so war kein Vorbeikommen.
„Wieso musst du eigentlich hier rum sitzen?“ fluchte er erneut.
„Wo soll ich sonst sitzen?“ kam nur als gedämpfte Antwort. Kayleigh, die noch immer an Ort und Stelle saß, hatte noch nicht einmal ihren Blick gehoben.
„Kein Wunder, dass Du noch keinen Freund hast!“ meinte Adrian, in der Hoffnung, sie irgendwie zu reizen.
Doch im Grunde war dies sinnlos. Wenn Kayleigh in ein Buch vertieft war, so war sie durch nichts abzulenken.
„Du bist im Moment auch Single!“
„Ja, aber ich bin nicht so Spinner, der den ganzen Tag zu hause rum sitzt und nichts anderes tut als lesen!“ Adrian drehte sich um und ging.
Kayleigh sah endlich vom Buch auf und schrie ihm nach: „Ich sitze nicht den ganzen Tag zu hause rum! Und ich lese nicht nur!“
Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Buch.
Es dauerte nicht lange, dann war Adrian zurück gekehrt.
Es gab nicht viel, was einem in dem Haus irgendeine Ablenkung verschaffen könnte.
Tante Meryl besaß keinen funktionierenden Fernseher mehr, seit der letzte irgendwann den Geist aufgab. Sie hatte keinerlei Interesse an solchen Dingen, wie sie einmal sagte.
Und auch sonst gab es nur eine etwas ältere Musikanlage. Doch für jemanden der an die volle Bandbreite der heutigen Berieslungsmöglichkeiten gewöhnt war, zählte dies nicht wirklich zu den Unterhaltungsmedien.
Allerdings war Adrian der einzige, der sich deswegen bei den Besuchen bei Tante Meryl langweilte. Meryl selbst kam auch gut ohne Fernsehen oder Internet klar, hatte sie doch genug Bücher zu lesen. Kayleigh hatte auch kein Problem für ein paar Tage ohne elektronische Unterhaltung zu leben und verbrachte auch so gern ihre Zeit mit der Nase in irgendwelchen Büchern. Auch ihr Vater hatte nichts gegen die Fernsehpause einzuwenden. Er war eh, die meiste Zeit mit irgendwelchen Reparaturarbeiten im Haus beschäftigt.
Eine Weile schaffte es Kayleigh ihren Bruder zu ignorieren, der sich, da sie noch immer keinen Platz gemacht hatte, hinter sie gehockt hatte und ihr nun neugierig über die Schulter sah.
„Was willst du?“ fragte sie leicht gereizt.
„Was ist das eigentlich für ein Buch?“ wollte er wissen und riss es ihr aus der Hand.
Er sah hinein und eigenartigerweise schien das Buch fast leer und war handgeschrieben.
„Ich habs von da hinten!“ Kayleigh zeigte an die einzige Buchfreie Wand, an dem ein großes halb verblasstes Gemälde hing, welches anscheinend irgendwann einmal eine Landschaft gezeigt hatte.
„Es gehörte Onkel Jim!“ flüsterte sie dann, woraufhin Adrian sie fragend ansah.
„Du weißt doch dass Tante Meryl nicht will, dass du seine Bücher anfasst!“ meinte er plötzlich in bedrückter Stimmung.
„Sie muss es ja nicht wissen!“ Kayleigh klang nun wieder mehr wie ein kleines Mädchen.
„Ja, aber das Buch ist gefährlich!“ Adrian starrte auf das Buch in seinen Händen. Er wusste im Grunde nicht einmal warum er so dachte.
Es war kein besonderes Buch. Mit einem schwarzen Stoffeinband, schon ein wenig ausgefranst an den Ecken und ohne Titel. Es sah viel eher einem alten Tagebuch gleich.
„Bücher sind nicht gefährlich!“
Adrian überlegte kurz.
„Das haben sie in der Mumie auch gesagt!“ fiel ihm dann ein.
„Das war ein Film!“ gab sie zurück und wollte gerade das Buch wieder an sich reißen, als Tante Meryl plötzlich in die Bibliothek stolperte.
Überrascht starrte sie die beiden an. Und dann fiel ihr Blick auf das Buch.
„Ich hab euch doch gesagt, dass ihr hier keine Bücher unerlaubt anfassen sollt!“ schimpfte sie und packte das Buch.
„Das … ist … meins! Ich hab keines der Bücher weggenommen!“ log Kayleigh.
„Aha!“ Meryl blätterte durch das Buch. Nur eigenartigerweise schien das Buch vollkommen leer zu sein. .
Und dann tauchte mittendrin ein einziger Satz auf.
„Folge mir!“
Irritiert starrte Meryl auf die Seite. Irgendwie kam ihr die Schrift bekannt vor.
Dann war ein Knacken zu hören. So als sei irgendwer auf einen Zweig getreten.
Das einzige Geräusch in dem stillen Raum.
Instinktiv sahen alle drei auf die Wand mit dem Gemälde.
Dort war ein großer Riss in der Wand aufgetaucht und der ging genau durch das Bild.
Meryl drückte Kayleigh das Buch wieder in die Hand, drängelte sich an ihr und Adrian vorbei und begutachtete die Wand.
Dann rief sie nach ihrem Bruder, der ebenfalls überrascht war seine beiden Kinder in der Bibliothek anzutreffen.
„Was ist los?“ wollte er nur wissen und drängelte sich ebenfalls an seinen Kindern vorbei zu Meryl.
Meryl strich irritiert über das Gemälde.
„Das hier …!“ meinte sie nur.
Der Vater verstand, nicht was sie meinte. Für ihn war da nichts außer ein Riss in der Wand. Etwas was er demnächst auch noch zu reparieren hatte.
Noch einmal strich Meryl über das Bild und den Riss. Dabei löste sich etwas ab und fiel zu Boden.
Adrian und Kayleigh starrten verwirrt zu den beiden älteren hinüber.
Meryl bückte sich, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und griff nach dem, was zu Boden gefallen war. Und plötzlich gab die Wand, an der sie sich abstützte, nach.
Noch irritierter, als über die versteckte Tür, die sich plötzlich aufgetan hatte, war sie über ihr Fundstück.
Eine kleine Karte. Kleiner als eine Postkarte, aber etwas größer als eine Visa-Karte.
Auf einer Seite eine gezeichnete Winterlandschaft und auf der anderen Seite nur ein Satz.
Der selbe wie in dem Buch.
„Folge mir!“
Es war sogar die selbe Handschrift.
Noch einmal begutachtete sie die Karte in ihrer Hand und dann sah sie zur Tür. Sie stemmte sich gegen die Tür, um sie ganz zu öffnen, und legte somit den dahinter verborgenen Gang frei.
„Was ist das hier?“ wollte ihr Bruder irritiert wissen.
„Das muss von Jim sein!“ entgegnete Meryl nur und ging ohne weiter darüber nachzudenken in den Geheimgang.
„Jetzt warte doch mal!“ Auch Adrians und Kayleighs Vater ging hinein, um seine Schwester zurück zu holen.
Kayleigh und ihr Bruder sahen sich verwundert an. Was gerade geschehen war, war zu irreal.
Für ein paar Minuten starrten sie auf den Geheimgang. Dann sprang Adrian auf und ging durch die eigenartige Tür, um nach seinem Vater zu suchen. Der Raum hinter der Wand konnte ja nicht wirklich groß sein.
„Du lässt mich doch nicht allein zurück!“ Panik brach in Kayleigh aus und auch sie stürmte los.
Der Raum hinter der Wand war dunkel und stickig, so wie man es wohl von einem jahrzehntelang verborgen Raum erwarten könnte.
Es schien ein langer Gang zu sein und immer wieder stieß Kayleigh mit ihren Füßen irgendwo an.
Und dann, nach schätzungsweise 100 Metern wurde es wieder heller und sie konnte vor sich ihren Bruder erkennen.
„Dad?“ schrie er, erhielt aber keine Antwort.
„Wo ist er?“ Kayleigh hatte Adrian endlich erreicht.
Keine Spur war von ihrem Vater oder von Tante Meryl zu sehen und so gingen sie schnell weiter.
Es wurde immer heller und die Luft immer trockener.
Und dann standen sie inmitten eines eigenartigen Säulenganges.
„Wie in Ägypten!“ entfuhr es Adrian.
„Wohl eher wie in Griechenland!“ verbesserte Kayleigh.
„Klugscheißer!“
Kayleigh ignorierte es und sah sich um. Hinter ihnen war ein kleines Gebäude, was einer Art Schuppen gleich kam. Anscheinend waren sie hier entweder gerade in einer Art Ausgrabungsstätte oder auf irgendeinem Privatgrundstück eines Museums oder dergleichen gelandet sein.
„Wie kann ein Tunnel von Meryls Haus bis nach … wer weiß wohin gehen?“ fragte sich Adrian und ging weiter voran.
Darauf hatte auch Kayleigh keine Antwort. Das einzige was sie wusste, war dass sie den Weg weitergehen mussten, wenn sie ihren Vater und ihre Tante wiederfinden wollten.
Sie schritten immer weiter, konnten die große eingezäunte Tempelanlage um sich herum sehen, die unmöglich da sein konnte. Sie gingen auf die nächste Tür zu, die vor ihnen war und gingen hindurch.
Und wieder umfing sie Dunkelheit.
„Wo sind wir jetzt?“
Als sie sich nach dem Durchgang umsahen, sah es aus, als wären sie durch einen einfachen Hausflur nach draußen gegangen.
Und statt einer fremdländischen Tempelanlage lag nun eine verschneite deutsch anmutende Altstadt mit Fachwerkshäusern vor ihnen.
Natürlich froren beide bei dem plötzlichen klimatischen und örtlichen Wechsel. Das war auch nicht weiter verwunderlich, da sie lediglich ihre dünnen Sachen trugen, die sie schon in der Bibliothek getragen und sie keine wärmeren Sachen über gezogen hatten. Aber sie hatten auch nicht damit gerechnet in eine so absurden Situation zu gelangen.
„Wir müssen Dad finden!“ meinte Adrian, packte seine Schwester an der Hand und zog sie mit sich. Er hatte keine Lust sie auch noch aus den Augen zu verlieren.
Die Menschen der Stadt, wohlweislich in Winterkleidung gehüllt, interessierten sich wenig für die Fremden. Es wirkte fast als schienen sie es gewöhnt zu sein, dass jemand in zu wenig Kleidung und fragendem Gesichtsausdruck durch ihre Stadt lief. Aber vielleicht war es ihnen einfach egal.
Die beiden Geschwister liefen immer weiter. Die Straßen wurden immer unübersichtlicher, fast schon labyrinthartig, und recht bald schon hatten sie sich verirrt.
„Sie müssen irgendwo hier sein!“ Kayleigh war verzweifelt.
Adrian erging es nicht anders. Er begann nach seinem Vater und Meryl zu rufen. Doch niemand reagierte.
Niemand scherte sich um die Fremden. Keiner kam zur Hilfe oder sah auch nur in ihre Richtung.
Kayleigh ging ein paar Schritte weiter und fand vor sich im Schnee die Karte, die Meryl zuvor in der Bibliothek gefunden hatte.
Sie hob die Karte auf und zeigte sie ihrem Bruder.
„Sie müssen hier irgendwo sein!“ bemerkte er daraufhin und sah sich um. Doch er konnte weder den Vater noch die Tante entdecken.
Kayleigh nahm ihm die Karte wieder ab und sah darauf, so als erwarte sie darauf den Aufenthaltsort der Gesuchten zu finden.
Aber stattdessen fand sie nur ein Wort:
„Lauf!“
Plötzlich hörte sie ein Raunen um sich herum.
„Dad? Meryl?“ rief noch einmal Adrian.
„Sie haben einen Schlüssel!“ bemerkte jemand und so langsam schien das Interesse an den Fremden geweckt.
„Lauf!“
„Adrian, hier stimmt was nicht!“ Kayleigh zog ihrem Bruder am Ärmel.
Im Grunde stimmte die ganze Situation nicht, dachte er sich. Wieso war da plötzlich ein Geheimgang in Tante Meryls Bibliothek? Und wieso führte er durch einen Tempel und dann in eine fremde Stadt? So lang war der Gang nicht gewesen.
Immer mehr Leute versammelten sich um Adrian und Kayleigh und starrten sie neugierig und zum Teil wütend an.
„Vielleicht sollten wir zurück!“ meinte Adrian nervös.
Er packte seine Schwester am Arm und versuchte so ruhig wie möglich zurück zu gehen.
Den richtige Weg zurück zu finden war nicht so einfach, da sie die Gegend noch nicht einmal kannten. Auch war es lediglich eine Idee, dass der Hauseingang durch den sie in die Stadt gekommen waren auch wieder zurück führen würde.
Es wirkte als sei die ganze Stadt hinter den beiden her. Immer wieder raunten sie, dass die Geschwister einen Schlüssel bei sich hätten.
„Was ist hier los?“ Kayleigh wurde immer panischer.
„Da ist die Tür!“ bemerkte Adrian erleichtert. Sie hatten den Hauseingang, durch den sie in die Stadt gelangt waren, endlich gefunden.
Doch als Adrian die Klinke nach unten drückte, passierte nichts. Die Tür war verschlossen.
Er probierte es noch einmal. Doch die Tür blieb verschlossen.
Kayleigh stand hinter ihm und sah sich um. Ihre Verfolger kamen immer näher und sahen alles andere als freundlich aus.
„Sie haben einen Schlüssel!“ bemerkte wieder einer.
Dann ging plötzlich die Tür vor ihnen auf.
„Los, kommt rein!“
Jemand zog die Beiden hinein und schloss die Tür hinter ihnen.
Adrian und Kayleigh bemerkten sofort, dass dies nicht der Hausflur war, durch den sie zuvor in die Stadt gelangt waren, obwohl dies dieselbe Tür gewesen war.
Sie standen nun inmitten einer dunklen kleinen Küche. Die Stimmen ihrer Verfolger waren eigenartiger weise verstummt, so als sei niemand mehr da.
„Du Idiot, ...“ bemerkte ihr Retter und drehte sich zu ihnen um, „ich hab dich noch gewarnt!“
„Du?“ Adrian starrte sein Gegenüber verwirrt an.
„Ich hab dich gewarnt! Sie sollte das Buch nicht öffnen!“ kam nur als Antwort, „Ihr beide habt gar keine Ahnung in welchem Schlamassel ihr steckt!“