Die Ernte
Als der Bauer aufwacht, ist es noch dunkel in seiner Hütte. Normalerweise wird er von den ersten Sonnenstrahlen geweckt, die durch das Strohdach dringen. Doch heute ist Arnolf früher wach geworden als sonst. Er ist angespannt. Unruhig hat er sich auf seinem Strohbett hin und her gewälzt. Heute muss alles gut gehen auf dem Feld.
Arnolf und seine drei Kinder müssen den Weizen schneiden und trocken in den Speicher bringen. Wenn sie nicht schnell genug mit der Ernte sind, wenn Regen oder Sturm aufkommen, steht seine Familie vor dem Ruin. Sie könnte die Abgaben nicht an den Grundherrn und Kloster Ostrada zahlen, sie hätten zu wenig zum Essen. Und auch dem Vieh fehlte es dann an Futter.
Arnolf faltet die Hände, spricht ein stummes Gebet, um seine Familie nicht zu wecken. Dann steht er auf. Einen der arbeitsreichsten Tage des Jahres kann man nicht früh genug beginnen, denkt er, als er seine Kleidung zusammensucht.
Arnolf ist ein exemplarisches Beispiel für so viele andere Landmänner seiner Tage und der Tage seiner Väter. Nicht viel hat sich verändert in den letzten vierhundert Jahren. Die einen kommen, die anderen gehen. Über den Alltag der Bauern werden künftige Generationen weniger wissen, als über den Adel und der Kleriker. Die Landbevölkerung konnte meist nie schreiben. Und die meisten Zeugnisse hinterlässt der, der sich niederschreibt. Bauern werden dadurch immer weniger Spuren hinterlassen, als Ritter, Mönche und selbst Pfarrer. Aber Arnolf und seine Landgenossen sind die Säule der Gesellschaft.
Arnolf schaut auf seine Frau Hiltrud und die drei Kinder. Auch sie schlafen auf dem Lehmboden. Aufgeschüttetes Stroh dient als Unterlage.
Sein Blick gleitet durch die Hütte. Darin stehen ein Tisch, fünf Schemel und zwei große Holztruhen. Mehr Möbel besitzt die Familie nicht. In der offenen Feuerstelle liegt weiße Asche und ein dicker, angeschwärzter Buchenscheit. Es riecht nach Ruß. Die Luft in der kleinen Lehmhütte ist verraucht. Der Herd aus Lehmziegeln, der in der Mitte des Raums steht, hat keinen Schornstein. Und Fenster gibt es nicht. Nur durch eine kleine Luke im Strohdach können die Rauchschwaden entweichen. Die Wände sind vom Ruß schwarz gefärbt.
Als Arnolf die Tür öffnet, strömt endlich frische Luft herein. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Wiesen vor dem Haus in ein mattes Gelb. Doch am Himmel stehen schon einige dunkle Wolken. Arnolf sieht das mit Sorge. Er muss sich beeilen. Schnell zieht er sich an.
Er trägt als Unterwäsche ein Leinenhemd, streift eine Jacke darüber, die seitlich zwei Schlitze hat, damit er sich beim Arbeiten gut bewegen kann. Dann stülpt er sich wollene Kniestrümpfe über. Die ganze Kleidung ist dunkelgrau. Buntes dürfen einfache Bauern nicht tragen. Denn die Farben der Hosen und Jacken spiegeln seinen Rang in der Hierarchie wieder. Je prächtiger und farbenfroher die Kleidung ist, desto bedeutender ist die gesellschaftliche Stellung des Trägers. Grundherren, denen das Land der Bauern gehört, besitzen bunte Jacken und Hosen. Sie tragen auch Schuhe aus feinem Rindsleder. Arnolf hat bei der Arbeit schwere, aus Lindenholz geschnitzte Holzpantinolen an den Füßen.
Nun weckt der Bauer seine Familie. Er ruft dem Alter nach die Namen seiner Kinder: Hans, Gertrud, Klaus. Dann sucht er seine Werkzeuge zusammen. Die Sichel, die Hanfstricke, den groben Sack. Jetzt kann es losgehen auf das Feld.
Arnolf ist kein wohlhabender Bauer. Davon gibt es ohnehin nur sehr wenige. Aber immerhin besitzt er etwas Vieh, Schafe, Schweine und vor allem einen Ochsen. Wer viele Nutztiere hat, ist angesehen im Dorf. Bauern, die keinen Ochsen haben, müssen sich ein Zugtier bei den Nachbarn leihen und dafür mit Eiern und Milch zahlen. Meist funktioniert die bäuerliche Gemeinschaft gut. Man hält zusammen. Schließlich verbringen die Bauern in der Regel ihr ganzes Leben an einem Ort. Stets in der Nähe derselben Nachbarn. Selten kommt es vor, dass ein Bewohner das Dorf verlässt, zu einer Pilgerfahrt aufbricht oder gar in die wachsenden Städte zieht.
Arnolfs Dorf besteht aus sieben Höfen. Eine Kirche gibt es nicht. Die steht im größeren Nachbardorf, nahe des Klosters Ostrada. Das Dorf kann ein Fußgänger in einer Stunde erreichen.
In der Mitte des Ortes steht eine alte Linde. Dort werden gemeinsame Feste unter freiem Himmel gefeiert. Feste sind wichtige soziale Ereignisse. Manch junger Bauer hofft, beim Tanz eine Frau zu finden.
Meist bestimmen allerdings die Eltern, wer geheiratet wird. Liebe spielt bei der Wahl keine Rolle. Die Vorstellung einer romantischen Ehe wird lediglich in der Minne besungen. Es geht um die wirtschaftliche Absicherung der Familie. Vor allem Kinder sind für die Altersvorsorge wichtig. Leibeigene, die unfeeien Landwirte, dürfen gar nur mit Zustimmung des Grundherrn eine Ehe schließen. Ihr Leben gleicht manchmal dem von Sklaven.
Vor der Linde im Dorfzentrum wird zudem Gericht gehalten. Doch dazu kommt es selten. Die Menschen im Dorf leben meist friedlich zusammen. Ihr Grundherr muss sie daher eher vor den Überfällen von Räubern und Plünderungen feindlicher Soldaten schützen. Dafür müssen die Bauern ihm ein Zehntel ihrer Ernte überlassen. Und sie müssen Fronarbeit verrichten. Sie schuften ohne Lohn auf dem Land des Adligen. Sie roden Wälder, legen Gräben und Straßen an oder pflügen dessen Äcker.
Protest gegen diese Pflichten gibt es kaum. Zwar gibt es hier und da passiven Widerstand, indem ein Bauer krankes Vieh als gesund bezeichnet oder unten im Sack verdorbenes Getreide reinschüttet, doch das sind Ausnahmen. Die Gedankenwelt eines Bauern ist eng. Sein Platz in der Gesellschaft gibt ihm die Religion vor. Der einfache Mann solle hinter seinem Pflug zufrieden sein, predigen die Geistlichen. Dort sei sein gottgewollter Platz.
Das ist auch nicht anders, wenn der Grundherr selbst ein Abt ist. Der Schutz der Bauern besteht dann darin, hinter die Klostermauern zu flüchten, wenn ein Angriff naht. Truppen zur Verteidigung hat das Kloster nicht. Und wenn sie nach welchen schicken wollen, ist der Angriff schon vorüber.
Es gibt im Grund nur zwei Arten für einen Bauern, Land zu bewirtschaften. Leibeigene und Pachtbauern bestellen die Äcker der reichen Gutherren und erhalten dafür ein kleines Stück Land zur Nutzung. Oder der Gutsherr vergibt Land als Lehen und verlangt dafür Abgaben. Hühner, Eier, Gemüse, Getreide, Schweine oder gar Geld. Säumigen Zahlern wird der Zins kurzerhand verdoppelt. Dazu kann es schnell kommen. Denn zusammen mit dem Zehnten ist die Belastung sehr hoch. Schon eine einzige Missernte wirkt sich verheerend aus. Außer kommt es eben immer wieder zu Überfällen durch bewaffnete Truppen, die Vieh und Vorräte rauben und Häuser brandschatzen. Und auch adelige Grundherren mit bewaffneten Schutztruppen sind längst nicht immer erfolgreich.
An der Spitze der Gesellschaft steht der Adel. Den zweiten Stand bilden die Kleriker. Zum dritten Stand gehören die Bauern, Händler und Handwerker. Doch so klar, wie gewollt, lässt sich weniges trennen.
Von zehn Männern leben neun auf dem Land. Die größte Sorge der Bauern besteht darin, den Anbau von Getreide zu sichern. Es ist das wichtigste Grundnahrungsmittel seit Jahrtausenden. Man braucht es, um Brot zu backen und einen Brei zu kochen. Das ist die Hauptspeise der Familien. Zu essen gibt es am Morgen noch nichts. Erst steht harte Arbeit an.
Das Feld ist nicht weit von Arnolfs Hütte entfernt. Da allerorten vorwiegend langsame Ochsen als Zugtiere eingesetzt werden, darf der Acker nicht weit weg sein. Die Bauern, die bereits ein Pferd ihr Eigen nennen können, wie es wohl nur wenige tun, können auch längere Strecken in Kauf nehmen.
Die Bevölkerung wächst langsam und doch ist einem Reisenden spürbar, dass sich die Landschaft verändert. Äcker werden mit Sträuchern und Steinen markiert. Je schlechter der Boden desto größer die Anbaufläche. Viel Arbeit für Arnolf und seine Kinder.
Das Getreide steht hoch, es wiegt sich leicht im Morgenwind. Hätte Arnolf ein Stundenglas, er wüsste, dass es die fünfte Stunde seit der Mitternacht ist. Doch solche Zeitmessgeräte besitzen nur Mönche und Gelehrte.
Der Bauer orientiert sich am Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. So lang dauert sein Tag. Arnolf berechnet sein Leben nach Jahreszeiten. Die hat er genau im Blick, denn davon hängt sein Überleben ab. Dreißig Sommer hat er schon erlebt. In seinem Stand wird im Durchschnitt nur fünfunddreißig Jahre alt. Der Hochadel und Bischöfe, mit eigenen Ärzten,alt besserer Nahrung und keiner harten körperlichen Arbeit, werden deutlich älter. Karl, der Große soll es auf fast achtzig Jahre gebracht haben.
Doch Arnolf hadert nicht mit seinem Schicksal. Harte Arbeit gehört zu seinem Leben. Er nimmt die Sichel in die rechte Hand, greift mit der Linken die Getreidehalme, zieht sie hoch, kappt dann die Ähren. Ratsch, Ratsch, Ratsch.
Erneut holt er aus und erneut und erneut. Auch sein ältester Sohn Hans mäht so das Getreide. Die anderen beiden Kinder bündeln die Ähren, legen und binden sie zusammen. All das dauert Stunden.
Der Bauer schaut immer wieder besorgt gen Himmel. Es ist bereits bewölkt. Wenn es stark regnet oder gar hagelt, könnte das die ganze Ernte ruinieren. Es muss schneller gehen. Doch Hilfe kann er nicht erwarten, denn die anderen Bauern teilen die gleiche Sorge und versuchen ihrerseits die Ernte einzufahren.
Um seinen Acker optimal zu nutzen, haben die Mönche des Klosters die Dreifelderwirtschaft in ihren Dörfern durchgesetzt. Auf einem Drittel baut er Sommergetreide an, auf einem anderen Wintergetreide und kältefestes Gemüse, wie Kohl und Kraut und das dritte Drittel liegt brach. Dort kann sich der Boden erholen, wird vom Vieh gedüngt und beweidet.
Die Felder wechseln. Die Sommerernte ist wegen ihrem Ertrag die wichtigste Ernte des Jahres. Die Winterernte im Frühjahr überdeckt Engpässe und erwirtschaftet knappen Gewinn.
Die Bauernarbeit wird von den Jahreszeiten bestimmt. Im Frühjahr wird das Sommerfeld gepflügt, im Sommer geerntet, im Herbst die Schweine zur Mast in die Wälder getrieben und im Winter ein großer Teil der Tiere geschlachtet.
In einem normalen Jahr wirft ein Acker rund fünftausendvierhundert Pfund Roggen und viertausend Pfund Hafer ab. Viel wird ihm von der Ernte nicht bleiben. Ein Drittel braucht er als Saatgut. Ein Sechstel als Viehfutter. Und auch das Kloster und etwaig bestellte Söldner fordern Angaben in Form von Naturalien ein. Nicht nur Getreide muss Arnolf als Zehnt an das nahe Kloster zahlen. Sein Grundherr fordert zudem Schlachvieh, Bier und Brot.
Nach stundenlanger Arbeit machen Arnolf und seine Kinder eine Pause. Sie kehren gegen Mittag in die Hütte zurück. Dort hat Hiltrud bereits Holznäpfe auf die Tischplatte aus rohem Holz gestellt. Die Familie setzt sich auf die Schemel, die um den Tisch stehen. Hiltrud füllt den Brei aus Dinkel, Roggen und Hafer ein. Er wurde in Milch gekocht, die die Bäuerin frisch gemolken hat. Der Brei wurde mit wildem Honig gesüßt. Das Getreide hat die Bäuerin in der Steinmühle gemahlen. Es ist bei weitem nicht so fein, wie es aus einer Rädermühle kommt und der Adel es liebt. Es reibt beim Kauen die Zähne ab. Zum Essen trinkt die Familie Molke. Jenes Restprodukt, das über bleibt, wenn man den Rahm für die Butter abschöpft.
Arnolf schaufelt den Brei hastig in sich hinein. Es liegen noch viele Stunden großer Plagerei vor ihm. Bis zum Sonnenuntergang soll die Ernte fertig sein.
Am Abend stehen dann im Speicher, einem kleinen Verschlag neben der Hütte, Dutzende Getreidegarben zum Trocknen aufgereiht. Erschöpft schaut Arnolf auf seine schwieligen Hände.
Müde trottet er über den Hof. Er füttert noch den Ochsen. Die Söhne kümmern sich um die Schweine. Hiltrud und die Tochter um das Federvieh. Nach einem gemeinsamen Abendgebet legt sich die Familie schlafen.
Die Ernte ist gesichert. Heute wird Arnolf gut schlafen.
Ende
niedergeschrieben von Hexagon
im 26. Jahr der Herrschaft Boleslav II., der Fromme, Sohn des verblichenen Boleslav I., aus dem Haus der Premysliden, dem König von Brahmen, einer der sieben Reichsfürsten der teutischen Lande, der im steten Streit um die Krone Brahmens mit dem Haus der Slavnikiden steht
im 15. Jahr der Herrschaft Otto III., Sohn des verblichenen Otto II., aus dem Haus der Liudolfinger, Sohn eines teutischen Königs und einer rhomäischen Prinzessin, somit Vereiner des alten Reiches, der im Süden zum König wurde und im Norden die Krone erhielt, der König der teutischen Lande und König der Tiber, Hegemon der Lombardei, Fronherr der Krone, Schirmherr und Herrführer der christlichen Lande
im Jahre 1309 nach der Thronbesteigung des Königs Seleukos I., eines Diadochen Alexanders des Großen
im Jahre 998 nach der Geburt des Propheten Jesus
im Jahre 714 nach der Thronbesteigung des Kaisers Diokletian auf den rhomäischen Thron
im Jahre 388 nach der Auswanderung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina
im 15. Jahr der Herrschaft Otto III., Sohn des verblichenen Otto II., aus dem Haus der Liudolfinger, Sohn eines teutischen Königs und einer rhomäischen Prinzessin, somit Vereiner des alten Reiches, der im Süden zum König wurde und im Norden die Krone erhielt, der König der teutischen Lande und König der Tiber, Hegemon der Lombardei, Fronherr der Krone, Schirmherr und Herrführer der christlichen Lande
im Jahre 1309 nach der Thronbesteigung des Königs Seleukos I., eines Diadochen Alexanders des Großen
im Jahre 998 nach der Geburt des Propheten Jesus
im Jahre 714 nach der Thronbesteigung des Kaisers Diokletian auf den rhomäischen Thron
im Jahre 388 nach der Auswanderung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina
Die Niederschrift im Jahr meiner Wanderschaft durch die Bahm'schen und Wend'schen Lande.
So begeben hat es sich, wie ich selbst gesehen habe und durch Gehörtes ergänzte.
So begeben hat es sich, wie ich selbst gesehen habe und durch Gehörtes ergänzte.
Als der Bauer aufwacht, ist es noch dunkel in seiner Hütte. Normalerweise wird er von den ersten Sonnenstrahlen geweckt, die durch das Strohdach dringen. Doch heute ist Arnolf früher wach geworden als sonst. Er ist angespannt. Unruhig hat er sich auf seinem Strohbett hin und her gewälzt. Heute muss alles gut gehen auf dem Feld.
Arnolf und seine drei Kinder müssen den Weizen schneiden und trocken in den Speicher bringen. Wenn sie nicht schnell genug mit der Ernte sind, wenn Regen oder Sturm aufkommen, steht seine Familie vor dem Ruin. Sie könnte die Abgaben nicht an den Grundherrn und Kloster Ostrada zahlen, sie hätten zu wenig zum Essen. Und auch dem Vieh fehlte es dann an Futter.
Arnolf faltet die Hände, spricht ein stummes Gebet, um seine Familie nicht zu wecken. Dann steht er auf. Einen der arbeitsreichsten Tage des Jahres kann man nicht früh genug beginnen, denkt er, als er seine Kleidung zusammensucht.
Arnolf ist ein exemplarisches Beispiel für so viele andere Landmänner seiner Tage und der Tage seiner Väter. Nicht viel hat sich verändert in den letzten vierhundert Jahren. Die einen kommen, die anderen gehen. Über den Alltag der Bauern werden künftige Generationen weniger wissen, als über den Adel und der Kleriker. Die Landbevölkerung konnte meist nie schreiben. Und die meisten Zeugnisse hinterlässt der, der sich niederschreibt. Bauern werden dadurch immer weniger Spuren hinterlassen, als Ritter, Mönche und selbst Pfarrer. Aber Arnolf und seine Landgenossen sind die Säule der Gesellschaft.
Arnolf schaut auf seine Frau Hiltrud und die drei Kinder. Auch sie schlafen auf dem Lehmboden. Aufgeschüttetes Stroh dient als Unterlage.
Sein Blick gleitet durch die Hütte. Darin stehen ein Tisch, fünf Schemel und zwei große Holztruhen. Mehr Möbel besitzt die Familie nicht. In der offenen Feuerstelle liegt weiße Asche und ein dicker, angeschwärzter Buchenscheit. Es riecht nach Ruß. Die Luft in der kleinen Lehmhütte ist verraucht. Der Herd aus Lehmziegeln, der in der Mitte des Raums steht, hat keinen Schornstein. Und Fenster gibt es nicht. Nur durch eine kleine Luke im Strohdach können die Rauchschwaden entweichen. Die Wände sind vom Ruß schwarz gefärbt.
Als Arnolf die Tür öffnet, strömt endlich frische Luft herein. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die Wiesen vor dem Haus in ein mattes Gelb. Doch am Himmel stehen schon einige dunkle Wolken. Arnolf sieht das mit Sorge. Er muss sich beeilen. Schnell zieht er sich an.
Er trägt als Unterwäsche ein Leinenhemd, streift eine Jacke darüber, die seitlich zwei Schlitze hat, damit er sich beim Arbeiten gut bewegen kann. Dann stülpt er sich wollene Kniestrümpfe über. Die ganze Kleidung ist dunkelgrau. Buntes dürfen einfache Bauern nicht tragen. Denn die Farben der Hosen und Jacken spiegeln seinen Rang in der Hierarchie wieder. Je prächtiger und farbenfroher die Kleidung ist, desto bedeutender ist die gesellschaftliche Stellung des Trägers. Grundherren, denen das Land der Bauern gehört, besitzen bunte Jacken und Hosen. Sie tragen auch Schuhe aus feinem Rindsleder. Arnolf hat bei der Arbeit schwere, aus Lindenholz geschnitzte Holzpantinolen an den Füßen.
Nun weckt der Bauer seine Familie. Er ruft dem Alter nach die Namen seiner Kinder: Hans, Gertrud, Klaus. Dann sucht er seine Werkzeuge zusammen. Die Sichel, die Hanfstricke, den groben Sack. Jetzt kann es losgehen auf das Feld.
Arnolf ist kein wohlhabender Bauer. Davon gibt es ohnehin nur sehr wenige. Aber immerhin besitzt er etwas Vieh, Schafe, Schweine und vor allem einen Ochsen. Wer viele Nutztiere hat, ist angesehen im Dorf. Bauern, die keinen Ochsen haben, müssen sich ein Zugtier bei den Nachbarn leihen und dafür mit Eiern und Milch zahlen. Meist funktioniert die bäuerliche Gemeinschaft gut. Man hält zusammen. Schließlich verbringen die Bauern in der Regel ihr ganzes Leben an einem Ort. Stets in der Nähe derselben Nachbarn. Selten kommt es vor, dass ein Bewohner das Dorf verlässt, zu einer Pilgerfahrt aufbricht oder gar in die wachsenden Städte zieht.
Arnolfs Dorf besteht aus sieben Höfen. Eine Kirche gibt es nicht. Die steht im größeren Nachbardorf, nahe des Klosters Ostrada. Das Dorf kann ein Fußgänger in einer Stunde erreichen.
In der Mitte des Ortes steht eine alte Linde. Dort werden gemeinsame Feste unter freiem Himmel gefeiert. Feste sind wichtige soziale Ereignisse. Manch junger Bauer hofft, beim Tanz eine Frau zu finden.
Meist bestimmen allerdings die Eltern, wer geheiratet wird. Liebe spielt bei der Wahl keine Rolle. Die Vorstellung einer romantischen Ehe wird lediglich in der Minne besungen. Es geht um die wirtschaftliche Absicherung der Familie. Vor allem Kinder sind für die Altersvorsorge wichtig. Leibeigene, die unfeeien Landwirte, dürfen gar nur mit Zustimmung des Grundherrn eine Ehe schließen. Ihr Leben gleicht manchmal dem von Sklaven.
Vor der Linde im Dorfzentrum wird zudem Gericht gehalten. Doch dazu kommt es selten. Die Menschen im Dorf leben meist friedlich zusammen. Ihr Grundherr muss sie daher eher vor den Überfällen von Räubern und Plünderungen feindlicher Soldaten schützen. Dafür müssen die Bauern ihm ein Zehntel ihrer Ernte überlassen. Und sie müssen Fronarbeit verrichten. Sie schuften ohne Lohn auf dem Land des Adligen. Sie roden Wälder, legen Gräben und Straßen an oder pflügen dessen Äcker.
Protest gegen diese Pflichten gibt es kaum. Zwar gibt es hier und da passiven Widerstand, indem ein Bauer krankes Vieh als gesund bezeichnet oder unten im Sack verdorbenes Getreide reinschüttet, doch das sind Ausnahmen. Die Gedankenwelt eines Bauern ist eng. Sein Platz in der Gesellschaft gibt ihm die Religion vor. Der einfache Mann solle hinter seinem Pflug zufrieden sein, predigen die Geistlichen. Dort sei sein gottgewollter Platz.
Das ist auch nicht anders, wenn der Grundherr selbst ein Abt ist. Der Schutz der Bauern besteht dann darin, hinter die Klostermauern zu flüchten, wenn ein Angriff naht. Truppen zur Verteidigung hat das Kloster nicht. Und wenn sie nach welchen schicken wollen, ist der Angriff schon vorüber.
Es gibt im Grund nur zwei Arten für einen Bauern, Land zu bewirtschaften. Leibeigene und Pachtbauern bestellen die Äcker der reichen Gutherren und erhalten dafür ein kleines Stück Land zur Nutzung. Oder der Gutsherr vergibt Land als Lehen und verlangt dafür Abgaben. Hühner, Eier, Gemüse, Getreide, Schweine oder gar Geld. Säumigen Zahlern wird der Zins kurzerhand verdoppelt. Dazu kann es schnell kommen. Denn zusammen mit dem Zehnten ist die Belastung sehr hoch. Schon eine einzige Missernte wirkt sich verheerend aus. Außer kommt es eben immer wieder zu Überfällen durch bewaffnete Truppen, die Vieh und Vorräte rauben und Häuser brandschatzen. Und auch adelige Grundherren mit bewaffneten Schutztruppen sind längst nicht immer erfolgreich.
An der Spitze der Gesellschaft steht der Adel. Den zweiten Stand bilden die Kleriker. Zum dritten Stand gehören die Bauern, Händler und Handwerker. Doch so klar, wie gewollt, lässt sich weniges trennen.
Von zehn Männern leben neun auf dem Land. Die größte Sorge der Bauern besteht darin, den Anbau von Getreide zu sichern. Es ist das wichtigste Grundnahrungsmittel seit Jahrtausenden. Man braucht es, um Brot zu backen und einen Brei zu kochen. Das ist die Hauptspeise der Familien. Zu essen gibt es am Morgen noch nichts. Erst steht harte Arbeit an.
Das Feld ist nicht weit von Arnolfs Hütte entfernt. Da allerorten vorwiegend langsame Ochsen als Zugtiere eingesetzt werden, darf der Acker nicht weit weg sein. Die Bauern, die bereits ein Pferd ihr Eigen nennen können, wie es wohl nur wenige tun, können auch längere Strecken in Kauf nehmen.
Die Bevölkerung wächst langsam und doch ist einem Reisenden spürbar, dass sich die Landschaft verändert. Äcker werden mit Sträuchern und Steinen markiert. Je schlechter der Boden desto größer die Anbaufläche. Viel Arbeit für Arnolf und seine Kinder.
Das Getreide steht hoch, es wiegt sich leicht im Morgenwind. Hätte Arnolf ein Stundenglas, er wüsste, dass es die fünfte Stunde seit der Mitternacht ist. Doch solche Zeitmessgeräte besitzen nur Mönche und Gelehrte.
Der Bauer orientiert sich am Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. So lang dauert sein Tag. Arnolf berechnet sein Leben nach Jahreszeiten. Die hat er genau im Blick, denn davon hängt sein Überleben ab. Dreißig Sommer hat er schon erlebt. In seinem Stand wird im Durchschnitt nur fünfunddreißig Jahre alt. Der Hochadel und Bischöfe, mit eigenen Ärzten,alt besserer Nahrung und keiner harten körperlichen Arbeit, werden deutlich älter. Karl, der Große soll es auf fast achtzig Jahre gebracht haben.
Doch Arnolf hadert nicht mit seinem Schicksal. Harte Arbeit gehört zu seinem Leben. Er nimmt die Sichel in die rechte Hand, greift mit der Linken die Getreidehalme, zieht sie hoch, kappt dann die Ähren. Ratsch, Ratsch, Ratsch.
Erneut holt er aus und erneut und erneut. Auch sein ältester Sohn Hans mäht so das Getreide. Die anderen beiden Kinder bündeln die Ähren, legen und binden sie zusammen. All das dauert Stunden.
Der Bauer schaut immer wieder besorgt gen Himmel. Es ist bereits bewölkt. Wenn es stark regnet oder gar hagelt, könnte das die ganze Ernte ruinieren. Es muss schneller gehen. Doch Hilfe kann er nicht erwarten, denn die anderen Bauern teilen die gleiche Sorge und versuchen ihrerseits die Ernte einzufahren.
Um seinen Acker optimal zu nutzen, haben die Mönche des Klosters die Dreifelderwirtschaft in ihren Dörfern durchgesetzt. Auf einem Drittel baut er Sommergetreide an, auf einem anderen Wintergetreide und kältefestes Gemüse, wie Kohl und Kraut und das dritte Drittel liegt brach. Dort kann sich der Boden erholen, wird vom Vieh gedüngt und beweidet.
Die Felder wechseln. Die Sommerernte ist wegen ihrem Ertrag die wichtigste Ernte des Jahres. Die Winterernte im Frühjahr überdeckt Engpässe und erwirtschaftet knappen Gewinn.
Die Bauernarbeit wird von den Jahreszeiten bestimmt. Im Frühjahr wird das Sommerfeld gepflügt, im Sommer geerntet, im Herbst die Schweine zur Mast in die Wälder getrieben und im Winter ein großer Teil der Tiere geschlachtet.
In einem normalen Jahr wirft ein Acker rund fünftausendvierhundert Pfund Roggen und viertausend Pfund Hafer ab. Viel wird ihm von der Ernte nicht bleiben. Ein Drittel braucht er als Saatgut. Ein Sechstel als Viehfutter. Und auch das Kloster und etwaig bestellte Söldner fordern Angaben in Form von Naturalien ein. Nicht nur Getreide muss Arnolf als Zehnt an das nahe Kloster zahlen. Sein Grundherr fordert zudem Schlachvieh, Bier und Brot.
Nach stundenlanger Arbeit machen Arnolf und seine Kinder eine Pause. Sie kehren gegen Mittag in die Hütte zurück. Dort hat Hiltrud bereits Holznäpfe auf die Tischplatte aus rohem Holz gestellt. Die Familie setzt sich auf die Schemel, die um den Tisch stehen. Hiltrud füllt den Brei aus Dinkel, Roggen und Hafer ein. Er wurde in Milch gekocht, die die Bäuerin frisch gemolken hat. Der Brei wurde mit wildem Honig gesüßt. Das Getreide hat die Bäuerin in der Steinmühle gemahlen. Es ist bei weitem nicht so fein, wie es aus einer Rädermühle kommt und der Adel es liebt. Es reibt beim Kauen die Zähne ab. Zum Essen trinkt die Familie Molke. Jenes Restprodukt, das über bleibt, wenn man den Rahm für die Butter abschöpft.
Arnolf schaufelt den Brei hastig in sich hinein. Es liegen noch viele Stunden großer Plagerei vor ihm. Bis zum Sonnenuntergang soll die Ernte fertig sein.
Am Abend stehen dann im Speicher, einem kleinen Verschlag neben der Hütte, Dutzende Getreidegarben zum Trocknen aufgereiht. Erschöpft schaut Arnolf auf seine schwieligen Hände.
Müde trottet er über den Hof. Er füttert noch den Ochsen. Die Söhne kümmern sich um die Schweine. Hiltrud und die Tochter um das Federvieh. Nach einem gemeinsamen Abendgebet legt sich die Familie schlafen.
Die Ernte ist gesichert. Heute wird Arnolf gut schlafen.
Ende