Kapitel LI
Sie war noch nicht lange hier, aber dennoch reichte der kurze Moment, um sich vollkommen Fehl am Platz vor zu kommen.
So recht wusste sie nicht, wo sie gerade steckte. Allerdings interessierte sie dies auch recht wenig.
Sie hatte lediglich ein Ziel.
Den ersten Schlüssel finden!
Ob sie es wirklich schaffen könnte, ihn zu finden und auch noch alle anderen Schlüssel zu deaktivieren, bezweifelte sie immer wieder. Ebenso wie die Entscheidung ihre Freunde zurück zu lassen.
Dieser Gedanke allerdings verflog schnell wieder, als sie einen starken Schlüssel spürte, der auf sie zukam.
Für einen Moment überlegte sie, dass sie vielleicht wieder weglaufen sollte. Doch dann blieb sie einfach stehen und wartete.
Irgendwann würde man sie eh einholen. Und einer Auseinandersetzung konnte sie auf Dauer nicht entgehen.
Verschüchtert wartete sie auf den Schlüsselmeister.
Angestrengt starrten Jim und Barry die Straße entlang. Erkennen konnten sie nicht wer auf sie zukam. Doch es war ein starker Meister und die Magie vertraut.
„Sollten wir nicht weg?“ kam von Adrian. Er hatte ein wenig Angst vor dem was sie nun erwarten würde.
Mica schüttelte nur den Kopf.
„Wir würden nicht weit kommen! Und er hat unsere Spur bereits aufgenommen!“ meinte er.
Jentrix war egal, wer oder was recht bald vor ihm und den anderen auftauchen würde. Er wollte, dass Kayleigh zurück kehrte. Und da dies wahrscheinlich nicht so schnell geschehen würde, so wollte er seinen Frust wenigstens in einer Schlägerei ablassen.
Dearon schwieg. Er ahnte was in seinem Kumpel vor sich ging. Und auch wusste er, dass, egal wo hin sie gehen würden, immer wieder irgendwer sich ihnen in den Weg stellen würde. Selbst wenn Kayleigh nicht mehr bei ihnen war. Noch waren ein paar Meister hier, wenn auch ohne Schlüssel!
„Das läuft wie am Schnürchen!“ bemerkte Millard mit hämischen Grinsen. Allerdings hatte er dies nur so vor sich hin gesagt und seine Männer verstanden nicht, was er damit meinte.
Also musste er es ihnen erklären.
„Ein Meister! Direkt vor uns!“ meinte er nur zu ihnen und ging los.
Was er den anderen nicht verriet war, dass er womöglich soeben den Schlüssel gefunden hatte, den er seit einer Weile schon verfolgte.
Er schritt immer schneller.
„Direkt vor uns!“ bedeutete leider nicht, dass sie nur knapp fünf Meter oder dergleichen laufen müssten. Es waren schon ein paar Meter mehr, die zwischen Millards Bande und dem Schlüssel lagen.
Aber zumindest war der Schlüsselmeister noch in der Stadt und wenn sie sich beeilten, so würden sie ihn diesmal auch erwischen.
Sebastian hatte lange gesucht und irgendwann eine Spur aufgenommen.
Würde er jemanden erklären müssen, wie er dies geschafft hatte, könnte er wohl keine plausible Antwort geben. Es war wie ein feines Netz aus Licht, so hatte er es als Kind einmal seinem Vater versucht zu erklären. Und in diesesm Netz gab es einen Strang der heller als die anderen leuchtete und dies wäre dann die richtige Spur.
Sein Vater hatte über diese Erklärung nur geschmunzelt.
Und genauso war es wieder. Er verfolgte einen feinen, nur für ihn sichtbaren, Faden aus Licht.
Und der führte ihn von einer Tür durch die nächste.
Kurz verlor er die Spur wieder.
Doch dann bemerkte er den Druck in seinem Magen und wusste, dass er zumindest einen weiteren Schlüssel und seinen Meister gefunden hatte. Und wie er so darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass die Spur genau zu diesem Schlüssel führte.
Er hatte also gefunden, was er suchte.
„Was machst du hier?“ wollte er erschrocken wissen.
Er hatte sie gesucht und nun gefunden.
Vor ihm stand Kayleigh und sah ihn genauso erschrocken an, wie er es tat.
Er wirkte ein klein wenig so, als habe er sie nicht hier erwartet.
„Was machst du hier?“ wiederholte er seine Frage und ging näher auf sie zu.
„Ähm …?“ Sie wusste nicht, was sie ihm antworteten sollte. Sie erkannte nicht, wer der Mann vor ihr war. Aber er kam ihr bekannt vor.
„Wo sind die anderen? Wo sind die Jungs?“ wollte er wissen.
Sie musterte ihn noch einmal von oben bis unten.
„Bastiano?“ wollte sie wissen.
Er riss die Augenbrauen hoch. Er hatte vergessen, dass er ja wieder jünger geworden war.
Er nickte, allerdings verbesserte er sie.
„Sebastian!“
Sie nickte irritiert.
Doch als er sie noch einmal nach ihren Begleitern fragte, ignorierte sie seine Frage einfach und wollte wissen, warum er hier sei.
„Es ist zu gefährlich für dich, allein unterwegs zu sein!“ meinte er besorgt und sah sich noch einmal um.
„Es ist gefährlicher, wenn man bei mir ist!“ gab sie zu verstehen und wollte gehen.
Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch oder einer Standpauke, zu der die Sache vermutlich ausarten würde. Sie wollte den ersten Schlüssel finden. Allein, denn das wäre sicherer. Für alle anderen!
Doch sie war kaum einen Schritt gegangen, als sie den nächsten Schlüssel spürte.
Sie hatte ihn nicht früher gespürt, da sie so auf Sebastians Magie fixiert gewesen war. So als habe seine Magie, die des anderen Schlüssels überdeckt.
Und auch der Schlüsselmeister war stark. Wie sie. Wie Sebastian. Vielleicht sogar stärker.
Seine Schritte wurden immer schneller. Er rannte schon beinahe. Vor ihm der Meister und seine magischen Schlüssel.
Alle warteten angespannt auf das Kommende. Dass sie noch immer auf dem Fussweg standen und sich die Japaner um sie herum drängten, machte die ganze Sache nicht angenehmer.
Doch als Adrian erkannte, wer da auf sie zukam, atmete er erleichtert auf.
„Was machst du hier?“ kam sofort als Frage, „Wo ist Kayleigh?“
Adrian sah seinem Gegenüber verschüchtert ins Gesicht.
„Sie ist … weg!“ gab er dann zu.
Der Mann vor ihm blickte an ihm vorbei und dann wieder auf ihn.
„Wo ist sie hin?“ wollte er leicht erzürnt wissen.
„Dad! Es tut mir leid!“ Adrian wurde immer leiser.
Hätte er nicht von den magischen Türen, die einen mitunter jünger machen konnten, gewusst, so hätte er im ersten Moment geglaubt, dass nun jüngere Doppelgänger seines Vaters und seiner Tante vor ihm stünden.
Allerdings den alten Mann bei ihnen kannte er nicht.
Jim aber schien ihn zu kennen, denn auch er entspannte sich und nickte ihm zu.
Barry bedachte die Neuankömmlinge mit einem fragenden Blick. Er versuchte herauszubekommen, welcher der drei der Meister war.
Und dann landeten seine Augen bei dem Alten.
„Wer bist du?“ wollte er wissen.
„Thomas!“ antwortete Jim.
Die anderen sahen ihn irritiert an. Und Jim musste ihnen erklären, woher er den alten Mann kannte.
„Er hatte mir damals das Buch gegeben und die Geschichte erzählt!“ gab Jim zu, „Allerdings war ich da noch ein Kind!“
Thomas nickte zustimmend. Er wollte nicht anfügen, dass er Jim nicht nur ein Buch und irgend eine Geschichte gegeben. Vielmehr war es die Geschichte seiner Familie.
„Schön und gut!“ platzte es aus Jentrix heraus und alle Augen richteten sich auf ihn, „Können wir jetzt Kayleigh holen!“
Nun hatten sie endlich den ersten Meister gefunden, bzw. er sie, und Kayleigh war verschwunden.
Doch Thomas müsste es möglich sein, die Türen wieder zu öffnen.
Aber er antwortete nicht. Nachdenklich sah er sich um.
Meryl blickte Jim irritiert an. Sie war sich nicht sicher, ob er wirklich ihr vor vierzehn Jahren verschwundener Mann war und wenn ja, ob er sie wiedererkannte.
Sie wusste nicht was sie sagen sollte.
Richard allerdings reagierte. Er hatte nicht nur seinen Sohn wiedergefunden. Er hatte nun auch seinen Schwager vor sich. Nur wusste er nicht, an wem er zuerst seinen Frust auslassen sollte.
Sollte er Adrian weiter Vorwürfe machen, dass er hatte seine Schwester gehen lassen oder sollte er Jim dafür anschreien, dass er ohne ein Wort seine Familie verlassen hatte.
Doch bevor harte Worte fielen, kam beinahe beiläufig von Dearon, dass es dazu keine Zeit gäbe.
„Wir sollten lieber nach Kayleigh suchen!“ meinte er. Jentrix stimmte ihm zu.
„Wer hat die Stadt versiegelt?“ wollte Thomas wissen und richtete sich damit direkt an Jim. Alle anderen waren ihm unbekannt.
„Kayleigh!“ seufzte er.
„Ja, und wegen ihr kommen wir nicht weg!“ protestierte Barry.
Doch Thomas verfiel wieder in nachdenkliches Schweigen.
„Vigilius ist in Vancouver!“ kam von Mica. Eine Nachricht, die Thomas aufhören lies.
Aber er reagierte nicht wirklich darauf.
„Ich bring euch hier weg!“ meinte er nur.
Richard war dagegen. Er ahnte, dass Thomas nicht nach Kayleigh suchen würde. Er wollte sie einfach nur alle wieder loswerden. Lautstark protestierte er.
„Ihr seid hier nicht sicher!“ antwortete Thomas nur. Unbeeindruckt von Richards Wutausbruch.
„Und Kayleigh?“ wollte nun auch Jentrix wissen.
Wieder reagierte Thomas nicht.
Er drängte sich an den Männern vorbei und ging auf die nächstbeste Tür zu.
„Wo willst du hin?“ wollte Barry sofort wissen. Eine Frage, die auch Richard beantwortet haben wollte.
„Ich bring euch weg von hier!“ kam nur in bedrücktem Ton von Thomas.
Noch einmal beschwerten sich alle, dass sie lieber nach Kayleigh suchen sollten.
„Sie wollte euch in Sicherheit bringen!“ wusste Thomas, „Ich hätte das auch getan!“
Er griff nach der Klinke.
„Wo genau?“ fragte er dann.
„Was?“
„Wo genau ist Vigilius?“ wollte er dann wissen.
„Wieso fragst du nach deinem Sohn?“ Richard war schon wieder kurz davor auszurasten, „Wir sollten lieber nach Kayleigh suchen!“
Jim aber nannte Thomas die Adresse des Wohnhauses in Vancouver. Er ahnte, was Thomas wirklich vorhatte.
Es ging ihm weniger um Vigilius, als vielmehr darum alle in Sicherheit zu bringen.
„Was ist mit Millard?“ interessierte Dearon.
Thomas wusste nicht, was er meinte.
„Der Typ, der Kayleighs Mutter getötet hat!“ erklärte Dearon ihm und erntete ein „Aha!“ von Thomas.
„Gehört er zur Familie?“
Sofort fiel Jim ihm ins Wort.
„Er gehört nicht zur Familie! Er ...“ begann er lautstark.
„Aber wieso ist er dann so … stark?“ warf Dearon sofort ein.
Thomas sah zwischen beiden hin und her.
„Er …“ Thomas schien nicht zu wissen, wie er antworten sollte. „Er ist durch Zufall Meister geworden!“
„Wie kann man durch Zufall Meister werden?“
Doch die Frage blieb unbeantwortet.
Thomas öffnete die Tür und dahinter war die Wohnung in Vancouver zu erkennen.
„Ihr solltet erst einmal zurück!“ meinte Thomas und machte den Weg frei.
Keiner bewegte sich vom Fleck. Schließlich war Thomas nicht der erste, der sie auszutricksen versuchte.
Je mehr Vigilius in dem Buch las, umso frustrierter wurde er.
Er wollte endlich raus. Raus aus der Wohnung und aus der Stadt.
Er wollte endlich etwas machen.
„Was passiert eigentlich genau, wenn Millard die Magie stiehlt?“ wollte Chan von ihm wissen und zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich, „Ich meine was passiert dann mit Kayleigh oder …. diesem Thomas?“
Eigentlich war dies eine gute Frage, dachte er sich. Das Buch zumindest wusste keine klare Antwort.
„Kayleigh könnte sterben!“ kam dann nur von ihm und beide Mädchen sahen ihn entsetzt an.
„Wieso?“ Alexias kaum hörbare Frage.
„Kayleigh ist ein Schlüssel. Sie ist kein normaler Meister!“ war Vigilius überzeugt, „Millard stiehlt den Schlüsseln ihre Magie. Und bei Kayleigh könnte es dann sein, dass er ihre Lebensenergie raubt!“
„Und Thomas?“ kam von Chan.
Beide Mädchen saßen rechts und links neben Vigilius und sahen ihn ein wenig erwartungsvoll an. Auch in ihnen wuchs der Wunsch irgendetwas zu tun.
„Thomas könnte vielleicht das selbe passieren!“ meinte er dann etwas leiser, „Ich weiß nicht genau, wo mein Vater seine Magie her hatte und ob es vielleicht so ist wie bei Kayleigh!“
Er wusste es wirklich nicht. Er wusste noch nicht einmal, wie der erste Schlüssel aussah oder wo Thomas ihn versteckt haben könnte.
„Kannst du nicht einen Schlüssel machen und ihr hinterher gehen?“ wollte Alexia wissen.
Vigilius sah sie verwundert an.
„Thomas hat Schlüssel geschaffen und auch Jim. Kayleigh vielleicht auch. Also müsstest du es doch auch können!“ war ihre Überzeugung.
Etwas beschämt gab er zu, dass er selbst noch nie einen Schlüssel geschaffen hatte. Er war nicht stark genug dafür gewesen. Und nun, nachdem Kayleigh ihm alle Schlüssel genommen und die Magie gelöscht hatte, war er sich sogar sicher, dass er nun kein Meister mehr wäre.
„Ich bin ein einfacher Mensch!“ seufzte er. Allerdings klang dies bei ihm ein wenig hilflos und auch vorwurfsvoll.
Die Mädchen sagten nichts dazu.
Dann ging die Tür auf und die drei zuckten erschrocken zusammen.
„Hast du das nicht bemerkt?“ war sofort Alexias Frage, woraufhin sogar Vigilius irritiert aufsah.
Er hatte keinen Schlüssel bemerkt, was ihn zusätzlich noch schockierte und seine Annahme, er sei nun nur noch ein normaler Mensch.
„Ihr seit zurück?“
Die Mädchen sprangen sofort auf und kamen auf die Wohnungstür zu, durch die soeben Mica, Jim, Barry, Jentrix, Dearon und Adrian kamen. Aber sie waren nicht allein.
Drei andere traten ebenfalls in die Wohnung.
Und als der letzte von ihnen eintrat, riss Vigilius die Augen weit auf.
„Vater?“ Mit ihm hatte er nicht gerechnet.
Der alte Mann nickte ihm nur zu und drehte sich wieder zur Tür.
„Wo ist Kayleigh?“ war Vigilius nächste Frage. Doch keiner wollte ihm wirklich antworten.
„Ihr habt sie allein gelassen?“ schimpfte er dann und sprang auf.
Er wollte zur Tür, wo sein Vater stand. Aber noch ehe er dort ankam, hatte sein Vater die Wohnung wieder verlassen und die Tür verschlossen.
Er kam sich verraten vor. Selbst sein Vater wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben, dachte er sich.
Auch die anderen waren nicht wirklich erfreut darüber, dass Thomas sie so schnell wieder verlassen hatte.
Nur tun konnten sie nichts dagegen.
Millard hatte endlich sein Ziel erreicht. Vor ihm der Schlüssel, den er nun schon seit längerem verfolgte.
Allerdings waren es zwei Schlüsselmeister, die er mitbekam. Zwei sehr starke.
Mit einem Schmunzeln im Gesicht ging er die letzten Schritte.
„Ah, wie niedlich!“ meinten seine Männer sogleich.
Sie waren ihrem Anführer hinterher gerannt. Sie wollten den Kampf nicht verpassen.
Vor sich konnten sie ein junges Mädchen und einen knapp Vierzigjährigen sehen. Beide schienen mehr als erschrocken.
Doch die Aufmerksamkeit des Mädchens war auf Millard gerichtet, so als würde sie die Männer nicht für voll nehmen. Anders als der Vierzigjährige. Er sah unruhig zwischen den Männern und Millard hin und her.
Der war sichtlich amüsiert, baute sich drohend vor beiden auf und forderte die Schlüssel der beiden.
Aber keiner der beiden regte sich.
Dann bemerkte Millard etwas. Es war wie ein kleiner Stromschlag. So als würde man einen Weidezaun anfassen.
„Tja, Kleine! Das klappt nicht!“ lachte er dann.
Der Mann neben den Mädchen warf ihr kurz einen fragenden Blick zu. Allen Anschein nach hatte er nicht mitbekommen, was gerade geschehen war.
Das Mädchen war nicht begeistert. In ihren Augen war Furcht zu sehen. Aber auch Trotz.
„Die Schlüssel bitte!“ Es war mehr ein Befehl.