Kapitel XI
Obwohl er hatte eigentlich schon längst in den Staaten sein wollen, fuhr er wieder zurück. Der Befehl war unmissverständlich gewesen und auch wenn er seinen Boss dafür hasste, so hatte er den Auftrag doch auszuführen.
Das Ding finden, was das Mädchen geklaut hatte und das Mädchen selbst finden und beides dem Chef übergeben.
Wann er vom einfachen Truckfahrer nun zum Jäger oder vielmehr Botenjungen gemacht wurde, wusste er längst nicht mehr. Nun gut, manchmal war ihm sein wahrer Beruf von Nutzen, vor allem, wenn er etwas zu transportieren hatte. Niemand achtete so genau auf die Waren, die er beförderte. Und die kleinen Schätze, die er nebenbei beschaffte, konnte er unter allen Augen verstecken und niemand würde wissen was es war.
Diesmal allerdings würde es schwieriger werden. Nicht nur, dass das Mädchen mit Sicherheit nicht mehr an dem Platz zu finden sein würde, wo er sie zurück gelassen hatte, so wusste er nicht, was für einen Gegenstand er diesmal abholen sollte.
Er hoffte, er würde es noch früh genug erfahren.
Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er nicht doch noch mal zu der Stelle fahren sollte, wo er die Kleine aus seinem Truck geworfen hatte. Doch dann entschied er sich dagegen und fuhr zurück zu der Stadt, wo er sie aufgegabelt hatte.
Zumindest den Gegenstand würde er dort finden und mit viel Glück vielleicht auch das Mädchen.
Eric hatte nicht lange gebraucht um in der Stadt Schließfächer zu finden. Natürlich gab es neben den normalen Briefkästen noch einige Schließfächer in der kleinen Stadtbank.
Aber es gab auch noch ein paar öffentliche Schließfächer auf dem Busbahnhof.
Stevie entschied sich für die Schließfächer bei der Busstation. Sie war sich sicher, dass sie nichts in einer Bank deponiert hatte. Vor allem, da ihr Brandon nur ganz kurz erzählt hatte, was er von Mike über Stevie´s letzten Besuch erfahren hatte.
„Willst du da jetzt wirklich hin?“ wollte Brandon von ihr wissen.
Im Grunde war seine Frage unnütz, da er mit Stevie und Eric zusammen bereits zu der Busstation gingen.
„Ich will wissen, was ich hier versteckt hab!“ erklärte sie und fügte dann unsicher hinzu: „Ich denke mal, dass ich hier was versteckt hab!“
Eric, der sich wieder für alle sichtbar gemacht hatte, schritt voran, so als müsse er die anderen beiden anführen. Er erzählte vor sich hin, so als müsse er nun alles an Gespräch nachholen, was er sich im Diner nicht getraut hatte.
Stevie hörte nur halb zu. Einerseits, weil er wieder von einem seiner Ausflüge erzählte, die ihn dahin geführt hatte, wo er, wäre er körperlich gewesen, nicht so einfach Zutritt gehabt hätte. Andererseits grübelte sie darüber nach, was Julian´s Zeichnung darstellen konnte und ob es das, was auch immer es war, was im Schließfach versteckt sein würde.
Brandon lief neben Stevie, beobachtete sie immer wieder aus dem Augenwinkel, während er versuchte gleichzeitig Eric nicht aus den Augen zu verlieren. Der Blonde erschien ihm im Moment ein klein wenig wie ein Junge, der sich zum ersten Mal in eine Mädchenumkleide geschlichen hatte, ohne erwischt zu werden. Wenngleich sich Brandon sicher war, dass Eric nicht zum ersten Mal irgendwo rein spaziert war, wo er normalerweise nicht sein sollte. Und wenn er es zugab, war er ein klein wenig neidisch darüber.
Plötzlich blieb Stevie stehen.
Eric bekam es nicht gleich mit und quasselte weiter vor sich hin.
„Was ist los?“ Brandon hatte mitbekommen, dass sie blass geworden war.
Ihren Blick hatte sie auf einen großen Truck mit Anhänger gerichtet, der vor der Busstation parkte.
„Das … ist der Fahrer, der …!“ kam kaum hörbar über ihre Lippen.
Brandon sah zu dem Truck. Er hatte sich nicht gemerkt in welchen Gefährt sie zuvor verschwunden war.
Eric hatte sich zu ihr umgesehen, als er endlich bemerkte, dass die anderen beiden, ihm nicht folgten.
Auch er sah Stevie´s blasses Gesicht.
„Das ist der Arsch, der dir das angetan hat?“ fragte er und klang mit einem Male ziemlich wütend.
Stevie nickte nur und bereute es gleich wieder.
Auf ihre Bestätigung hin hatte Eric sich wieder in Luft aufgelöst.
Sie rief ihm hinterher. Doch Eric reagierte nicht darauf.
„Ihm kann doch nichts passieren!“ versuchte Brandon sie zu beruhigen. Im Grunde machte er sich mehr Sorgen darüber, was Eric dem Fahrer antun könnte.
„Ich muss Eric zurück holen!“ meinte Stevie nur leise und ging schnellen Schrittes zu dem Truck hinüber.
Er war gerade angekommen und hatte seinen Truck auf dem Parkplatz abgestellt, als plötzlich ein blonder Kerl bei ihm auftauchte und ihn anpöbelte.
Was der Kerl von ihm wollte, wusste er im Grunde nicht. Doch er war nicht unbedingt derjenige, der sich eine Schlägerei entgehen lies. Und der Kerl vor ihm schien es geradezu darauf anzulegen.
Der Blonde schien überrascht zu sein, als er einen kräftigen Kinnhaken verpasst bekam.
„Wie hast du das gemacht?“
Der Fahrer gab keine Antwort darauf. Er schlug einfach nur weiter.
Der Blonde versuchte sich zu wehren, schien aber im Grunde zu perplex zu sein.
Und nur wenige Sekunden später, lag der Blonde KO am Boden.
„Eric?“
Der Fahrer sah sich um und sah, wie das Mädchen, was er noch am Vortag verprügelt und auf offener Landstraße ausgesetzt hatte, angerannt kam.
Als sie ihn erblickte, stoppte sie. Doch es war mehr der Anblick des Blonden am Boden, der sie verstörte.
„Was hast du gemacht?“ kam leise über ihre Lippen.
„Schön, dass du hier bist!“ lachte der Fahrer und ging auf das Mädchen zu, „Spar ich mir die Suche nach dir!“
Brandon war Stevie hinterher gerannt und kam gerade um den Anhänger des Trucks, als der Fahrer nach Stevie griff.
„Was ist hier los?“ rief er laut und der Fahrer und auch Stevie sahen zu ihm.
„Was ist das hier? Hast du dir jetzt Babysitter zugelegt?“ spottete der Fahrer und packte Stevie´s Jacke und zog somit das Mädchen zu sich.
„Lass sie in Ruhe!“ Brandon wusste zwar nicht genau, was vor sich ging, aber er konnte nicht zulassen, dass der Kerl Stevie noch einmal weh tat.
Er hatte noch nicht bemerkt, dass der blonde Kerl, der zu Füßen von Stevie und dem Truckfahrer lag, Eric war.
„Wieso glaubst du, dass du dich einmischen solltest?“
Der Fahrer hatte Stevie umgedreht und hielt sie im Klammergriff, sodass sein linker Arm gegen ihre Kehle drückte, während er mit der rechten Hand hinter sich griff.
Er zog eine Pistole, welche er sich kurz zuvor in den Hosenbund gepackt hatte, hervor und zeigte damit auf Brandon.
„Ich versteh nicht, warum du dich überhaupt einmischt!“ meinte der Trucker, „Die Sache hier, geht nur die Kleine und mich was an!“
Stevie sah entsetzt von der Waffe auf Brandon und wieder zurück. Stevie konnte schon kaum noch blasser werden.
Brandon hatte seine Hände gehoben und wartete.
„Du solltest verschwinden!“ kam vom Trucker nur, „Die Kleine kommt mit mir!“
Damit richtete er die Pistole auf Stevie.
Doch noch immer bewegte sich Brandon nicht von seinem Fleck. Er befürchtete, dass der Kerl, wenn er ihm den Rücken zudrehte, doch noch abfeuern könnte.
„Schätzchen, du zeigst mir jetzt das Schließfach!“ flüsterte der Trucker Stevie ins Ohr und sie nickte nur.
Rückwärts und mit der Waffe noch immer Stevie bedrohend ging der Trucker in Richtung Eingang der Busstation.
„Du bleibst fein hier draußen!“ knurrte er noch Brandon entgegen.
Als er dann mit Stevie im Inneren des Gebäudes waren, drehte er sich um, damit er auch sah, wohin er ging.
Natürlich löste sein Auftauchen oder vielmehr seine Waffe, Panik unter den Leuten in der Busstation aus.
„Scheiße!“ Daran hatte er nicht gedacht.
„Alle auf den Boden!“ schrie er dann. Wohl oder übel musste er nun darauf vertrauen, dass keiner, der lediglich vier Leute, die inklusive der Busfahrkartenverkäuferin, anwesend waren, auf die Idee kam, den Helden zu spielen.
Doch keiner der Leute schien daran zu denken. Sie legten sich alle auf den Boden und sahen verängstigt zu ihm.
Brandon wollte schon hinterher rennen, doch dann überlegte er es sich noch einmal. Es wäre dumm von ihm nun auch in die Busstation zu rennen.
Der Kerl würde ihn erschießen und vermutlich auch Stevie.
Mit dem Blick auf die Busstation gerichtet ging Brandon zu dem Blonden hinüber, der noch immer reglos am Boden lag.
Brandon hoffte, dass der Trucker den Kerl nicht erschossen hatte.
Gerade als er den Puls des Mannes fühlen wollte, erkannte Brandon, wen er vor sich hatte.
„Eric? Was soll der Scheiß?“
Doch Eric antwortete ihm nicht. Jedenfalls nicht sofort.
„Verdammtes Arschloch!“ kam schwach von Eric, der sich langsam aufzusetzten versuchte.
„Was ist passiert?“ Brandon verstand nicht was los war.
Eric sah sich um und erst jetzt bemerkte er, dass Brandon vor ihm war und nicht der Trucker.
„Der hat mich vermöbelt!“ stellte Eric fest. Er schien sehr überrascht darüber.
„Wie kann der dich verprügeln? Du bist ein Geist!“ schimpfte Brandon und sah wieder zu der Busstation hinüber.
„Ich weiß nicht!“ gab Eric zu und wollte aufstehen, als ihm auffiel, dass er eine Kette, mit einem eigenartigen Anhänger in der Hand hielt.
Er musste die Kette dem Trucker abgenommen haben. Er warf sie zu Boden und stand auf.
„Wo ist Stevie?“ wollte er dann von Brandon wissen und dieser erwähnte ihn Kurzform, was Eric verpasst hatte.
„Verdammt!“ knurrte Eric, „Ich werd sie da raus holen!“
„Wenn du da einfach so rein platzt, wird er schießen!“ meinte Brandon und Eric wollte ihm schon entgegnen, dass ihm eine Waffe nichts anhaben könnte.
„Dir machen Pistolenkugeln vielleicht nichts aus! Aber Stevie und den anderen da drin!“ schimpfte Brandon und erst jetzt schien Eric die Situation richtig zu verstehen.
Brandon und Eric waren nicht die einzigen, die Zeuge waren, von der Geiselnahme Stevie´s.
Ein älterer Herr, der eigentlich nur mit seinem Hund Gassi gehen wollte, hatte mitangesehen, wie der Truckfahrer erst den Blonden verprügelt und sich dann das Mädchen, was dem Blonden anscheinend helfen wollte, geschnappt hatte. Und als dann ein weiterer Kerl auftauchte, hatte der Trucker eine Waffe gezogen und war mit dem Mädchen als Geisel in die Busstation gegangen.
Genauso hatte der Mann es der Polizei durchgegeben, die er mit seinem Handy rief. Er hatte sich teilweise wiederholen müssen, weil die Frau am anderen Ende der Leitung, seinen Anruf im ersten Moment für einen Scherz hielt.
Doch dann versicherte sie ihm, dass Hilfe unterwegs sei und er sich in Sicherheit bringen sollte.
„Bring mich zum Schließfach!“ forderte der Trucker.
Stevie wusste im ersten Moment nicht, wo die Schließfächer waren. Doch dann sah sie sie. Sie waren auch nicht wirklich versteckt. Sie füllten fast die ganze Wand neben den öffentlichen Toiletten gegenüber des Telefons aus, von dem aus Brandon am Vortag seine Mutter angerufen hatte.
Der Trucker lies Stevie endlich wieder los, machte ihr aber klar, dass er seine Waffe noch immer auf sie gerichtet hatte.
Immer wieder warf er einen Blick zu den anderen, die verängstigt auf dem Boden lagen und nur darauf hofften, dass er wieder verschwand.
Stevie suchte die Schließfächer ab und ihr Blick blieb bei einem haften. Sie hoffte, sie konnte sich auf das Gefühl verlassen, dass ihr sagte, dass sie vor vier Monaten Schließfach Nummer dreizehn gewählt hatte.
„Mach es auf!“ forderte der Trucker gleich.
„Ich hab aber keinen Schlüssel!“
Der Fahrer sah sie ungeduldig an. Ihm fiel wieder, dass er ihr einen Schlüssel entwendet hatte. Doch dieser würde nicht in eines der Schlösser passen.
„Du musst ihn aber haben!“ schimpfte er und trat näher an sie heran.
Stevie schüttelte nur den Kopf und sah auf die Waffe, die bedrohlich näher gekommen war.
„Willst du mich verarschen?“ kam plötzlich von dem Fahrer und er verpasste Stevie einen Schlag mit der Pistole, der sie ab Kinn traf.
Stevie taumelte kurz und musste sich an den Schließfächern abfangen.
Sie wusste nicht, ob er sauer auf sie war, da sie das Schließfach nicht öffnete, oder ob er sauer war, weil plötzlich drei Streifenwagen mit Blaulicht vor der Busstation standen.
Entsetzt sah sie zu dem Mann. Sie wusste nicht, was er als nächstes tun würde.
Er schien kurz zu überlegen.
Dann sah er sie finster an.
„Das ist alles deine Schuld!“ versicherte er ihr mit dunkler Stimme, drohte ihr erneut mit der Waffe und drehte sich dann zu dem Schloss um.
Und schoss.
Schreie hallten durch die Station. Alle waren erschrocken über den Schuss. Vermutlich rechneten sie alle damit, dass er jeden Moment auf sie schießen und sie töten würde.
Doch der Trucker hatte lediglich das Schloss aufgeschossen.
Dennoch überließ er es Stevie, die Tür ganz zu öffnen und den Inhalt des Schließfachs zu offenbaren.