Kapitel I
Beginnender Herbst. Es ist Mitte September und der Tag ist schon wieder viel zu weit fortgeschritten. Morgens wollten sie aufbrechen, doch all die, noch schnell zu erledigenden, Arbeiten, kosten mehr Zeit als eingeplant. Antonia ist ziemlich aufgeregt, während Paul in aller Ruhe und routiniert das Gepäck im Auto verstaut. Ein kleiner weißer Lieferwagen, ein sogenannter Hundefänger, wird die kommenden Tage ihr zu hause sein.
Für Antonia ist es die erste große Reise. Paul hingegen hat schon viel von der weiten Welt gesehen. Einige Male war er, nur mit Rucksack ausgestattet, unterwegs gewesen. Meistens zog es ihn in warme Gebiete, wie zum Beispiel nach Indien, Malaysia, auf Sumatra oder auf Bali. Nie hatte er irgendetwas im voraus reserviert oder geplant. Er hatte jeweils einfach nur seinen Rucksack aufgeschnallt und ist losgezogen. Auch in dem Zielland ihrer jetzigen Reise war er schon gewesen: Rumänien.
Endlich geht es los. Wie bei all seinen früheren Reisen, gilt ihr letzter Weg, bevor sie entgültig auf der Straße unterwegs sein werden, einem Lokal, in dem eine Freundin von ihnen arbeitet. Das, inzwischen traditionelle, Abschiedsessen besteht aus Makkaroni mit Tomatensoße und Käse. So vergeht noch etwas mehr als eine halbe Stunde, in der noch viel geredet und gelacht wird. Nach einer liebevollen Umarmung verlassen sie das Lokal und die Reise kann beginnen.
Ihre Fahrt führt sie quer durch Tschechien, über Prag und Brno, weiter in die Slowakei. Bratislava ist der Name der Stadt, wohin die Autobahn führt und sie werden dieser Linie folgen. Inzwischen ist es 03:30 morgens und beide sind total müde. Die Gesüprache sind, aufgrund der Müdigkeit beider, schon vor geraumer Zeit verebbt. Die Aufputschgetränke werden ihren Namen nicht mehr gerecht. Antonia sind ihre Augen schon mehrfach zu gefallen, doch sie will nicht schlafen.
Sie befinden sich auf irgendeiner der Landstraßen. Eine der vielen Straßen, die sie heute befahren haben. Eine von Vielen. Die Nacht ist dunkel und ein Schatten der Bäume, die zur Linken der Straße stehen, breitet sich aus. Auf der rechten Seite ist freies Feld zu erkennen, welches nur von einigen wenigen Bäumen durchzogen ist. Wahrscheinlich sollen diese die Ernte vor schlechtem Wetter oder zu starken Winden schützen.
Paul setzt unverhofft den Blicker und schwenkt nach links, worauf er den Wagen stopt und den Motor aus macht. "Unser Schlafplatz." verkündet Paul. Im Lichtkegel sieht man Schatten verschwinden. Schon des öfteren haben beide einfach so in der freien Natur übernachtet, manchmal mit, manchmal ohne Auto. Dennoch ist es Antonia etwas unheimlich zumute. Sie fühlt sich fremd und dann noch diese Schatten. Zögernd äußert sie ihre Bedenken, worauf Paul den Wagen startet und einen Feldweg auf der gegenüber liegenden Seite ansteuert. Hier, nahe den Bäumen, fühlt sich auch Antonia wohl und das Nachtlager kann errichtet werden.
Kapitel II
Die Sonne ist aufgegangen. Die Nacht ist dem Tag gewichen. Antonia schlägt ihre Augen auf. Ihr verträumter Blick geht hinaus zur Hintertür des Wagens, den Paul offen gelassen hat, nachdem er aufgestanden ist. Lange her kann es noch nicht gewesen sein, denn auch er wirkt noch sehr müde, als er zum Wagen zurück gelaufen kommt. Antonia hat keine richtige Lust aufzustehen, sondern läßt sich die leichte Brise des Morgens lieber in ihrem Schlafsack um die Nase wehen. Auf den Bauch gedreht wandert ihr Blick auf die Straße, die sie gestern Nacht verlassen hatten.
"Gib mir mal bitte die Karte. Ich möchte gern schauen, wo wir denn genau sind." Paul kramt ein dickes, blaues Buch hervor und reicht es ihr. Sie befinden sich nahe der Grenze von Ungarn, soviel weiß sie bereits. "Da, schau mal!" Ihr Finger gleitet über die Linie der Straße 63 / E575, die nach Komárno führt. "Hier genau stehen wir gerade." Als Paul es sich genauer ansieht, muß er schmunzeln. So weit sind sie gekommen. Jetzt stehen sie vor der Grenze zu Ungarn. Den heutigen Tag möchte er nur genießen und schlägt vor, doch nur bis nach Ungarn rein zu fahren, an einem Ort, den er, vor geraumer Zeit, einmal mit seinem Freund aufgesucht hatte und an welchem er eine totale Sonnenfinsternis erlebt hatte.
Antonia hat sich inzwischen aus ihrem Schlafsack geschält und den Erdboden mit bloßen Füßen betreten. Die Sonne scheint warm und hell. Ganz anderes noch als gestern, als sie in Deutschland gestartet sind. Antonia atmet tief durch. So weit war sie noch nie von zu hause weg gewesen. Sie weiß, ihre Reise wird sie noch weiter gen Osten führen, doch schon jetzt macht ihr der Temperaturunterschied klar, daß sie viele Kilometer von ihrer Heimat trennen. Doch noch etwas anderes wird ihr bewußt.: Sie fühlt sich frei - unbeschwert und frei. So ein Gefühl des lösgelößt seins, hatte sie noch nie zuvor erlebt. Es gab nichts, was sie bedrückte, obwohl es genügend Dinge gab, die ihr zu schaffen machten, doch hier und jetzt waren sie wie weggeflogen - weit weg.
"Komm, laß uns los fahren!" Paul sitzt bereits im Wagen und Antonia schwingt sich auf den Beifahrersitz. Auf Pauls Schoß liegt das dicke Landkartenbuch. "Schau, wir fahren heute bis an diesem See." Sein Finger zeigt auf den drittgrößten natürlichen See Ungarns, den Velencei-tó. "Hier in Velence ist dann auch der Steinbruch, in dem ich schonmal mit meinem Freund übernachtet habe, als wir die Sonnenfinsternis beobachtet haben." Paul startet den Motor und drückt Antonia das Buch in die Hand. Antonia freut sich auf das große Abenteuer und doch merkt sie immer wieder, wie sie schon jetzt an ihre Grenzen stößt. In einem Steunbruch zu übernachten ist nicht gerade das, was sie sich erträumen würde, vor allem, weil sie Berkwerke nicht sonderlich mag und sich unter einem "in einem Steinbruch übernachten" nichts vorstellen kann.
Ihr Blick wandert aus dem Fenster. Sie weiß, sie muß sich kleine Sorgen machen. Paul würde immer auf ihre Bedenken und Ängste Rücksicht nehmen, auch wenn er sie dann langsam aber bestimmt über ihre Grenzen hinaus führen wird. Schon so machne innere Barriere hatte er sie so überschreiten lassen. Mit jedem Schritt ist sie über sich hinaus gewachsen und hat begriffen, daß sie mehr kann, stärker und mutiger ist, als sie dachte und daß es oftmals gar keinen Grund zur Besorgnis gab. Außerdem, was sollte geschehen, wenn Paul da war? Er hat viel Auslandserfahrung und außerdem ihr vollstes Vertrauen. Sie ist neugirig auf die Welt und möchte weiter wachsen. Dazu gehört es nunmal seine eigenen Grenzen zu erweitern, auch, wenn es ihr anfangs viel abverlangen würde. Nach dieser Reise würde sie vieles anders betrachten als heute, als gestern. Soviel war ihr bewußt.
Während sie so dahin fahren, streift ihr Blick durch die ungarische Landschaft. Der Baustiel der Häuser gleicht fast denen in ihrer Heimat, nur scheinen sie hier etwas verspielter zu sein. Gerade auf den Dörfern haben viele Häuser Bögen an den Hauswänden und hin und wieder sind Schilfdächer zu sehen. "An Autos fährt hier aber auch fast alles, was noch rollt." Antonia kann nur so staunen, daß so viele, richtig alte Wagen, neben all den Neuen, auf der Straße unterwegs sind. Sie mag alte Autos und so freut sie sich über jedes Einzelne, welches sie entdeckt.
Mal wieder stopte Paul den Wagen. Sie sind jetzt in Argárd oder Gárdony und auf der Suche nach einem Lebensmittelladen. Der Wechselkurs liegt hier bei 1 zu 130. Es dauert nicht lange und die Fahrt kann fortgesetzt werden. Für diesen Abend haben sie so einige Leckerein eingekauft. Bevor es nun an den See gehen soll, möchte sich Paul noch den Schlafplatz ansehen.
Langsam fährt ihr Wagen einen ziemlich steilen Berg hinauf und biegt schließlich nach rechts. Zum ersten Mal wirft Antonia einen Blick in einen Steinbruch und ist etwas erleichtert. Sie hatte sich so einen Steinbruch viel schlimmer vorgestellt, wobei der Begriff "schlimmer" schwer zu definieren ist. Da in dem Steinbruch noch einige Menschen zu Gange sind, wendet Paul das Auto und fährt langsam den Hang wieder hinunter.
Kurz darauf erreichen ist der See und das Bad erreicht. Paul wirkt erstaunt. In dem Bad ist kaum etwas los. Nur vereinzelt liegen einige wenige Leute auf der Wiese. Höchstens fünf werden es sein, kaum mehr. Im Wasser ist niemand zu sehen. Das Tor zum Bad ist mit Ketten verhangen und Antonia kann sich die Frage danach, wie denn die Anderen in das Bad gekommen sind, nicht verkneifen. Paul meint nur, daß, wenn die Anderen rein gekommen sind, sie auch rein kommen werden. Tatsächlich hängen die Ketten nur locker am Tor, so daß man problemlos das Bad betreten kann. Ins Wasser allerdings zieht es keinen von beiden, denn ist sieht nicht gerade einladend aus.
Der Tag beginnt sich zu neigen und so beschließen Antonia und Paul zum Steinbruch aufzubrechen. Oben angekommen stellen beide fest, daß dieser mit einer Schranke abgesperrt ist. Paul will sich aber nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen, in diesem Steinbruch zu übernachten, steigt aus dem Wagen und hebt die Absperrung beiseite. Jetzt könne sie problemlos passieren. Kaum ist das Auto geparkt, baut Paul die Absperrung, wie zuvor gewesen, wieder auf.
Jetzt war es Zeit, es sich unter dem weiten Sternenhimmel gemütlich zu machen. Antonia holt die Campingstühle hervor und stellt sie auf, während Paul einen Klapptisch herbeiträgt. Er öffnet eine Flasche Tokajer Wein und beginnt auf dem Dieselkocher ein schmackhaftes Gericht zu kochen. Antonia hat es sich auf einem der Klappstühle bequem gemacht und schaut bewundernd in dem Sternenhimmel. Dadurch, daß sie in dem Steinbruch sitzen, stört kein Licht irgendeiner künstlichen Lichtquelle, sondern nur das große, weite Himmelszelt macht sich über beide breit. Schnell sind Antonia und Paul in ein Gespräch vertieft, lassen ihre Gedanken treiben und malen Bilder am Sternenhimmel. Beide wissen, dies ist ein Moment, der einfach nur zu genießen ist.
Kapitel III
Lautes Donnern reißt Antonia und Paul aus dem Schlaf. Irgend etwas oder irgend jemand klopft hartnäckig gegen die Ladefläche ihres sogenannten Hundefängers, den Platz, an dem sie schlafen. Ein Blick auf die Uhr verrät, daß es 07:30 Uhr morgens ist. Entnervt springt Paul aus dem Wagen. Die Nacht gestern ist lang geworden und so sind beide noch sehr müde. Eine wirkliche Kommunikation zwischen Paul und den, inzwischen als Bauarbeiter erkenntlichen, Leuten, kommt aufgrund des Mangels der Sprache des jeweils anderen, nicht zustande. Durch Zeichensprache machen die Bauarbeiter nun Paul deutlich, daß er zur Absperrung mitkommen solle. Kurz darauf läuft er schnellen Schrittes zu Antonia und dem Wagen zurück und sagt, daß sie dringend hier weg müssen. Etwas verwirrt setzt sich Antonia auf den Beifahrersitz und Paul beginnt ihr zu erzählen, daß die Bauarbeiter den Auftrag haben, die Schranke, die er gestern Abend beiseite gehoben hat, zuzuschweißen, da der Steinbruch nicht weiter genutzt werden soll. Ein Arbeiter hatte zufällig das Auto entdeckt. Die einzige Möglichkeit, ihren Auftrag auszuführen sahen die Bauarbeiter darin, Antonia und Paul zu wecken und aufzufordern woanders zu parken. Hätte der Bauarbeiter ihr Auto nicht entdeckt, wären Antonia und Paul in dem Steinbruch gefangen gewesen, denn es gab keinen weiteren Ausgang.
Da Paul noch keine Lust hatte weiter zu fahren, beschließen sie, wieder zu dem Bad zu fahren und dort davor noch etwas zu schlafen. Gegen 10:30 Uhr ist aber dann definitiv die Nacht zu Ende und beide genießen das Frühstück am See. Da Antonia und Paul nun wußten, wie sie ins Bad kommen, gehen sie wieder hinein und legen sich zum sonnen auf die große weite Wiese. Stunden vergehen. Die Uhr zeigt inzwischen 16 Uhr und Paul meint, daß man doch bald los müsse, wenn man Morgen in Rumänien eintreffen möchte.
Bevor es los geht, dreht Paul noch eine Runde am Wasser entlang und Antonia sieht ihm von ihrer Decke aus zu. Ein wunderschönes Bild zeichnet sich vor ihren Augen ab. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, ein leichter Windhauch streicht die Grashälme und in leichter Ferne steht Paul am See. Antonia genießt es sehr an nichts denken zu müssen, ihre Gedanken einfach treiben zu lassen. Sie wendet ihren Blick auf den See. Paul schlendert langsam wieder zu ihr zurück. Antonia genießt das Neue, das Andere, in vollen Zügen. Sie ist so begeistert von all den vielen Eindrücken, daß sie gar nicht weiß, was sie fotografieren soll. Vieles ist schön und es würdig festgehalten zu werden.
Paul möchte noch einmal duschen und springt splitterfasernackt unter eine Dusche, mitten auf der Wiese im Bad. Andere Leute sind heute keine zu sehen und daher hat Paul auch keine Hemmungen. Lustig ist das Schauspiel für Antonia allerdings und dies liegt nicht an Pauls Nacktheit, sondern daran, daß das Wasser der Dusche eiskalt ist und Paul dementsprechend unter der Dusche hin und her springt. Natürlich verrät Paul den Grund seines herumspringens Antonia nicht sondern schaut erwartungsvoll zu ihr herüber, als sie Richtung Dusche unterwegs ist. Antonia öffnet den Hahn der Dusche, der direkt unter dem Duschknopf befestigt ist, und bekommt somit das eiskalte Wasser über. Paul kringelt sich vor lachen, denn er wußte, aus eigener, gerade gemachter, Erfahrung, wie kalt das Wasser ist.
Nach dieser Aktion packen Antonia und Paul ihre Sachen zusammen und brechen nun endgültig vom Velencei-tó See auf. Langsam nähern sie sich der Grenze. Vielleicht werden sie diese noch heute Abend überschreiten. Antonia lehnt sich zurück. "Na, da laß ich mich mal überraschen, was uns erwartet." Im Gegensatz zu Paul bereitet es Antonia immer wieder Bauchschmerzen, wenn sie eine Grenz überschreiten. Die Frage nach dem "Warum" kann sie nicht beantworten. Es ist irgendwie komisch für sie. Paul paßt auf sie auf und daß ist ein gutes Gefühl für sie. Entspannt lehnt sie sich zurück und blickt den kommenden Urlaubstagen freudig entgegen.