Eine nervöse Zeit: Information




Auch ich habe einige Spiele, die ich euch nicht vorenthalten möchte.

Moderator: almafan

Eine nervöse Zeit: Information

Beitragvon almafan » Do 17. Jun 2021, 00:37

Eine nervöse Zeit

Arbeitstitel: Episode Lüderitz

Entwicklungszeitraum Vollversion: März 2021 - heute

Genre
(Ein bisschen) Action, (viel) Historie, Rollenspiel

Story
Entdeckt von einem Portugiesen schon vor 400 Jahren, besiedelt hat diesen Granitfelsen am Ende der Wüste Namib aber erst der Kaufmann dessen Namen diese Siedlung nun trägt, Franz Adolf Eduard Lüderitz.
Abenteurer und Soldaten, mehr gab es bis 1908 hier nicht. Aus den Wellblech- und Holzhütten wurde dennoch binnen kurzer Zeit eine ausgewachsene Stadt. Das Diamantenfieber sorgte dafür. Oben, bei Kolmannkuppe hat man beim Bahnstreckenbau im Sand einfach Diamanten gefunden. Man musste nicht tief graben, nicht untertage. Diese edelsten aller Steine lagen hier einfach im Wüstenboden herum. In diese Aufbruchsstimmung gerät der junge Rudolf Emil Jakubczyk als er 1913 dieses Ende der Welt erreicht. Er reist als Sektretär des Prokuristen Hermann Walther Rüdewitz für die Phänomen-Werke Gustav Hiller AG, um diesen in seiner Handlungsvollmacht zu unterstützen. Für das Unternehmen soll ein lukrativer Vertrag mit der Bergarbeiterstadt für die Versorgung mit motorisierten Zwei- und Dreirädern abgeschlossen werden. Für die hiesigen Straßenverhältnisse ideal. Auch über die Vergabe von Einkaufsvolumina für Nähmaschinen gegen inländische Güter soll verhandelt werden. Vielleicht schaffen es die beiden auch, einen Absatzmarkt für den in der Heimat verschmähten Phänomobil zu schaffen. Ein kleines vierrädriges Gefährt, dass sich am deutschen Markt nicht durchzusetzen vermag.
Während Rudolf nochmals die Akten durchgeht und anschließend den Koffer schließt, hört er den Prokuristen sagen:
"Hier ist es wirklich, wie es im alten Buche steht: 'Am Anfang erschuf Gott Himmel und Erde; Und die Erde ward wüst und leer.' Ich denke nicht, dass der Schreiber damit diesen Flecken im Sinn hatte. Aber es hätte nicht treffender formuliert werden können. Es ist einer der unwirtlichsten und wirrensten Orte, die ich je gesehen habe. Hier wächst kein Baum ohne Hilfe. Es gibt kein Süßwasser. Der Wind weht unablässig. Diese Stadt klemmt zwischen zwei menschenfeindlichen Welten. Eine ist das endlose Wasser des Atlantiks, das den Wind immer aufs Neue aufpeitscht und das man nicht trinken kann. Der andere Feind ist der Sand der Wüste. Und doch, hier steht sie nun. Eine deutsche Stadt, mit verspielten Villen und breiten Straßen. Diese Stadt ist der Menschen Versuch, der Natur den Schneid abzukaufen. Die bevorstehende Krise ist steter Begleiter. Eine öde, raue, sturmumtoste, gottverlassene Gegend."
Er wendet sich zu Rudolf: "Für dich könnte es hier der Anfang deiner Karriere werden. Vielleicht das schönste Ende der Welt. Ich kann es nicht abwarten, von diesem Fleck wieder abzureisen. Zum Glück machen wir nur die Formalitäten und erwerben ein Grundstück, auf dem die Niederlassung ihren Laden errichten kann."
Hermanns Blick schweift wieder zur Küste. Wie in einem Gedicht von Theodor Storm, dass von der grauen Stadt am grauen Meer erzählt, so ist es hier auch. Die Fluten, die an den Fels schlagen, die Robben die gegen den scharfen Westwind ankreischen, Albatrosse, die über den Wellen stehen, in ihrem schneidigen Flug vom Gegenwind ausgebremst. An zweihundert Tagen pfeift hier ein scharfer Wind, krachen schwere Brecher an die felsige Küste. Wieder ermahnen Rudolf die Worte des Prokuristen: "Afrika ist ein verfluchtes Land. Das wirst du schon noch begreifen."

Bild
Ansicht Zittau um 1850

Rudolfs Geschichte beginnt aber früher. Er ist durch Zufall nach Zittau gelangt, hat mal hier mal da gearbeitet. Die wachsende Industrie benötigt immer mehr Arbeiter, aber auch jene, die sie lenken. Sein Vater war einer dieser Lenker. Als Postmann stiegt er in der Firma ein. Er machte es bis zum Sektretär des Königlich Sächsischen Polytechnikum zu Dresden. Die Kinder sah er nur an manchen Wochenenden. Ein grandioser Aufstieg für einen Jungen, der von einem kleinen Textilbauern abstammt.

Bild .
1. Bild: Verarbeitung von Flachs im Familienbetrieb, Schweden, um 1920.
2. Bild: Schafschur durch die Women's Land Army mit handbetriebener Schere auf einer britischen Farm (1914)
(Beide Bilder könnten aber auch überall sonst entstanden sein).

Dieser Vater hat eine Expedition in den vorderen Orient gewagt, bezahlt aus den Forschungsgeldern, die Österreich-Ungarn 1897 ausgelobt hatte, mit einem Kredit allerdings vorgestreckt, der alle Ersparnisse auffraß. Über den Verbleib des Vaters weiß man heute nichts genaues. Er gilt als verschollen.
Schon seltsam, wie dicht Rudolf und Lüderitzbucht im Herzen liegen. Beide haben ihren Vater verloren, können sich aber nicht sicher sein, dass er noch irgendwo da draußen ist. Denn auch der Kaufmann, der diese Stadt gegründet hat, ist bei einer Expedition verschwunden. Beide sind in dieser nervösen Zeit ständig davon getrieben, nicht unterzugehen. Rudolf, weil auch er überall nur zu Gast ist und niemanden so richtig kennt. Er ist gut, in dem was er tut, aber er ist ersetzbar.
Lüderitzbucht aber ...

Es gibt Städte, die hatten vermutlich nie eine Chance. Pompeji zum Beispiel. Oder Atlantis, falls es das je gab. Und eben Lüderitzbucht.
Lüderitzbucht ist Ausdruck des verzweifelten Versuchs, die Natur zu bezwingen. Das Wort Existenzkrise stand an der Wiege Pate, als die Stadt vom Bremer Kaufmann hier reingepflanzt wurde. Und es begleitet die Stadt am Ende der Welt bis heute. Es ist der einzige geschützte Hafen an Deutschlands südwestafrikanischer Küste. Hier wollte Wilhelm die Hauptstadt seiner neuen Kolonie errichten. Ein imperialer Irrtum, gespeist aus Unkenntnis und Selbstüberschätzung, wie so vieles, was Europäer in Afrika hinterließen. Als man merkte, dass Lüderitzbucht, hoffnungslos im Abseits lag, wurde die Verwaltung nach Windhuk verlegt, ins Herz der Kolonie, umgeben von Farmland und an wichtigen Bahn- und Straßenkreuzungen. Und Lüderitzbucht versank Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals in der Bedeutungslosigkeit.
Aber auch das ist Lüderitzbucht: Stets, wenn die Lage besonders aussichtslos war, geschah ein kleines Wunder. Manchmal auch ein großes. Das erste Wunder war ein Aufstand des Volkes der Nama. Der grausame Krieg gegen den afrikanischen Stamm im Süden der Kolonie bescherte Lüderitzbucht den Bahnanschluss. Und eine Menge Soldaten, die sogenannten Schutztruppen, die Lüderitzbucht für zwei Jahre aufleben ließen. Zwei Jahre brauchten die Deutschen am Anfang des Jahrhunderts, um die Bahnverbindung bis Keetmanshoop in die Wüste zu zaubern.

Als der Krieg vorbei war, die Truppen abzogen und wieder einmal die Bedeutungslosigkeit drohte, gab es das große Wunder: Der Bahnangestellte August Stauch fand vor den Toren der Stadt Diamanten. Heute sind die Claims abgesteckt. Die Schürfer schürfen. Die Deutschen kassieren.

So trostlos die Stadt aus der Ferne wirkt, so hart ist das Leben in ihr. Wenn man kein Deutscher ist.
Am Hafen herrscht geschäftiges Treiben. Matrosen und Soldaten stehen sich hier die Beine in den Bauch, während die ausnahmslos schwarzen, armen Schweine die Ladungen löschen und die Schiffe wieder beladen. Es ist laut. Nach der langen Zeit auf dem Kahn muss man sich erst einmal wieder an diese vielen Menschen gewöhnen. Rudolf versucht in der Menge nicht den Anschluss an den Prokuristen zu verlieren. Dieser scheint zu wissen, wo er hin will. Ein Gebäude steht vor ihnen, dass auch hätte nicht deutscher sein können. Es hätte exakt so auch im Reich stehen können. In irgendeiner dieser vielen wachsenden Städte.
Ludwig Jägermann ist Eigentümer des Kapp Hotels. Es ist das älteste Hotel der Stadt. Im Ballsaal tobt das Leben. Die Glücksritter bezahlen ihren Champagner schon mal mit Edelsteinen. Man erzählt sich, dass die Jägermanns im Keller einen großen Vorrat an Kronleuchtern horten, da diese von den Gästen sehr oft von der Decke geschossen werden. Huren und Spieler machen die Nacht zum Tag.

Herrmann und Rudolf sitzen am Tisch im Speisesaal. Herrmann freut sich auf Gerichte, die ihm die Karte verheißt: Langusten, Garnelen, Austern. Doch die hübsche Kellnerin, teilt ihm bedauernd mit, dass es keine der aufgelisteten Köstlichkeiten gibt, dafür den Fang des Tages. Herrmann ist sichtlich erbost, willigt aber doch in die magere Auswahl ein. Als könnte eine Ablehnung etwas am Angebot ändern. Sie haben keine Wahl, wollen sie in diesem Hotel ihr Mahl einnehmen.
Herrmann war schon einmal hier. Er wirkt, als wolle er gleich wieder weg. Diese Atmosphäre ist bedrückend.

Die Kellnerin flirtet mit einem Gast, der an der Bar sitzt und ein Bier trinkt. Dafür, dass es das einzige Gericht ist, das man heute bestellen kann, schmeckt der Fang des Tages ausgesprochen gut.
Herrmann spricht Rudolf kurz an: "Sekt fließt reichlich, Wasser ist knapp. Oben in Kolmannkuppe noch schlimmer als hier. Nach dem ersten Diamantenfund 1908 hatten die Glücksritter binnen weniger Monate eine moderne deutsche Stadt aus dem Sand gestampft – eine Villensiedlung mit Eisfabrik, Schule, Bäckerei, Schlachterei, Elektrizitätswerk, dem Kegelklub 'Gut Holz' und Schienenanschluss. Das alles, in der Wüste." Herrmann isst hastig und spricht dabei weiter: "Der Tag für die bis zu 300 Deutschen beginnt trotzdem mit frischen Brötchen. Das knappe Wasser wurde zunächst mit einem Tankschiff aus Kapstadt geliefert und mit Ochsenkarren durch die Wüste gekarrt."

"Absoluter Wahnsinn."
, denkt sich Rudolf. Für ein paar Steine wird ein Aufwand betrieben, als wolle man London belagern.

Es ist Abend. Der Südwestwind legt scharfe Sandschleier über die Gebäude.
Die Weiten um diesen abgeschotteten Ort gehören wieder den Elementen. Dem Wind, der hier an 200 Tagen des Jahres bläst. Dem Nebel, gespeist aus den eiskalten Fluten des Benguelastroms im nur wenige hundert Meter entfernten Atlantik.

Die Wüste wird sich irgendwann wiedernehmen, was ihr zusteht. Was ihr der Mensch nur den Zeitraum eines historischen Wimpernschlages abgetrotzt hatte.
Rudolf fühlt sich nicht wohl. Nur die Kellnerin mit den großen Augen und den langen dunklen Haaren fesselt ihn.

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(folgt noch)

Wissenswertes
Die Handlungsfiguren sind fiktiv, aber alle genannten Orte existieren wirklich. Die Stadt Lüderitz ist auf Granitfelsen im südlichen Namibia gebaut, an der Küste des stürmischen Atlantiks. In einer natürlichen Meeresbucht gelegen (ursprünglich hieß die Stadt Lüderitzbucht, dieser Name wird im Spiel verwendet), ist die Stadt gegen Süden / Südwesten hin durch eine Halbinsel vor den stürmischen Wassern des Atlantiks geschützt.

In Lüderitz herrscht ein arides Klima mit sehr wenigen Niederschlägen. Die Höchsttemperaturen liegen nie über 30°C - Tiefstwerte im namibischen Winter (Juni/ Juli) sind nie unter 10°C. Durch den vor der Küste Namibias verlaufenden kalten Benguelastrom, schwanken die Wassertemperaturen meist bei 10-16°C. Lüderitz hat heute eine Bevölkerungszahl von 12.500 Einwohnern und eine interessante europäische Besiedlungsgeschichte.

Das heutige Stadtbild Lüderitz ist geprägt von liebevoll restaurierten Häusern aus der deutschen Kaiserzeit im Stadtzentrum – meist im wilhelminischen Stil erbaut, mit starken Tendenzen zum Jugendstil. Sie sind die Überbleibsel des Diamantenbooms zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Vereinzelt gibt es aber auch moderne Gebäude. Neben dem vom Jugendstil geprägten Stadtzentrum, gibt es auch die Vororte Nautilus und Benguela, in die, während der Apartheidperiode, Farbige und Schwarze umgesiedelt wurden.
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"If the biggest problem that you're having in the twenty-first century involves
what other people's genitals look like, and what they're doing with those genitals
in the presence of other consenting adults, you may need to reevaluate your
priorities." - Forrest Valkai


("Wenn das größte Problem, das du im 21. Jahrhundert hast, darin besteht, wie
anderer Leute Genitalien aussehen und was diese damit in Gegenwart anderer
Erwachsener mit deren Einverständnis machen, musst du möglicherweise deine
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Re: Eine nervöse Zeit: Information

Beitragvon almafan » Do 2. Sep 2021, 14:24

Der Titel

In einer nationalistischen Propagandaschrift wird kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft mit den Worten "Überall Unsicherheit, überall Schwäche, überall Angst, Angst, Angst" beschrieben.
Joachim Radkau, Jahrgang 1943, lehrte als Professor bis 2009 Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld. Er hat diese Epoche, also die Zeit Deutschlands zwischen Bismarck und Hitler, in seinem 1998 erschienen Buch "Das Zeitalter der Nervosität" als ebensolche bezeichnet. Bereits 1994 hat er im Journal "Geschichte und Gesellschaft 20. Jahrg., H. 2, Sozialgeschichtliche Probleme des Kaiserreichs (Apr. - Jun., 1994)" (Hrsg.: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG)) auf den Seiten 211-241 darüber geschrieben.
Auch der Autor Riccardo Nicolosi hat sich in dem Journal "Degeneration erzählen" dazu in seinem Aufsatz "Das nervöse Zeitalter. Degeneration, Neurasthenie und Moderne" 2018 dazu geäußert. Für ihn ging es dabei um Literatur und Psychiatrie im Russland der 1880er und 1890er Jahre.
Diese "Nervosität und Moderne" hat auch die Autorin Ursula Link-Heer im Buch "Kozepte der Moderne" an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in vielerlei Gestalt herauskristalisiert.
"Nervenleiden als Ausdruck einer Krise der Moderne? Zum Phänomen des Nervösen in Deutschland um 1900" hießt auch eine Hausarbeit des Autors Niklas Sobotka 2013.
Sigmund Freuds vielzitierter kleiner Aufsatz aus dem Jahr 1908 über "Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität" und seine Zitate von zeitgenössischen Psychiatern (hier Wilhelm Erb, Otto Binswanger und Richard Freiherr von Krafft-Ebing) machen eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen dem als hektisch empfundenen "modernen Dasein" und der Zunahme von Nervosität und Nervenkrankheiten aus. Ökonomische und industrialistisch-technologische, politische und soziale Faktoren werden gleichermaßen als "Strapazen für das Nervensystem" dingfest gemacht. Aufgezählt werden unter anderem der Kampf ums Dasein, die Großstädte, die Ausweitung des Handels und des Verkehrswesens, Telegraphie und Telephon, Wahlagitationen, Finanzkrisen, Begehrlichkeit nach Luxus, Genußsucht, Reisen und nicht zuletzt "die moderne Literatur", die "pathologische Gestalten, psychopathisch-sexuelle, revolutionäre und andere Probleme vor den Geist des Lesers [bringt]".


Deutsche Auswanderer im Hamburger Hafen (um 1850)

Der Umbruch der bäuerlichen Gemeinden, die in Deutschland in großem Stil ab ca. 1860 begann und mit dem Amtsantritt Wilhelm II. 1888 so richtig Fahrt aufnahm.
Die Hinwendung zu großindustriellen Betrieben, allen voran der Stahlindustrie.
Der technologische Umbruch, weg vom Holz, hin zum Beton und Stahl.
Der Beginn der Automatisierung und die Teilung von Arbeitsschritten bis hin zur ersten Fabrik im großen Stil, in der Henry Ford sein Model T für einen günstigen Preis in großer Stückzahl produzieren konnte.

Erstmals gelesen habe ich von dem Begriff der "nervösen Zeit" in den Zeitschriften "Geo Epoche Panorama: Deutschland zur Kaiserzeit" und "Geo Epoche: Deutschland um 1900".

Immer rascher ist der Puls des Lebens, immer hektischer müht sich der Bürger. Doch wohin? Und wozu? Fast scheint es, als sei in all der rasenden Bewegung der innere Kompass verloren gegangen. Der bekannte Kulturkritiker Alfred Kerr zieht am letzten Tag des Jahres 1899 ein Fazit: "Die Zeit ist aus den Fugen."

Genau daher rührt der Titel dieses Spiels:
"Eine nervöse Zeit"

Und seit dem ist es nicht ruhiger geworden.

Ähnlich wie im wirtschaftlichen Raum ältere Gewerbeformen neben die moderne Industrie traten, mischten sich auch ältere und neuere Lebensweisen, soziale Gruppen und gesellschaftliche Problemlagen. Das 19. Jahrhundert gilt als Zeit des Durchbruchs der bürgerlichen Gesellschaft, obwohl sie zahlenmäßig nie die Mehrheit der Gesellschaft bildeten. Die bürgerliche Lebensweise, ihre Werte und ihre Normen wurden dennoch prägend für das 19. Jahrhundert. Zwar behaupteten Monarchen und Adel zunächst noch ihre Führungsrolle in der Politik, aber diese wurde allein durch die neuen nationalen und bürgerlichen Bewegungen mitgeprägt und herausgefordert.
Den Kern des neuen Bildungsbürgertums im Gebiet des Deutschen Bundes bildeten vorwiegend die höheren Beschäftigten im Staatsdienst, in der Justiz und dem im 19. Jahrhundert expandierenden höheren Bildungswesen der Gymnasien und Universitäten. Neben dem beamteten Bildungsbürgertum gewannen freie akademische Berufe wie Ärzte, Rechtsanwälte, Notare oder Architekten erst seit den 1830/40er-Jahren zahlenmäßig an Gewicht. Konstituierend war für diese Gruppe, dass die Zugehörigkeit nicht auf ständischen Vorrechten, sondern auf Leistungsqualifikationen beruhte. Das Bildungsbürgertum bot also mehr noch als alle anderen Klassen, die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg - über das Abitur und ein Studium.


Krupp-Werke in Essen 1864

Genau diese Möglichkeit hatte eben auch der Vater des Protagonisten erhalten und so seinen Kindern ein Leben als Weber und Bauern erspart. Ein Junggeselle der in der Poststelle als Laufbursche anfing, schnell zum Zuarbeiter des Postsekretärs wurde und so die Möglichkeit erhielt, sich Geld für ein Abitur zusammen zusparen. Dass er auch dann fortsetzte, als er bereits geheiratet hatte. Auch ohne Studium wurde er dennoch ins gleiche Werk erneut übernommen, da er bis dahin gute Arbeit geleistet hat.
Die nervöse Zeit trifft also auch auf die Familie Jakubczyk zu, die vor gerade einmal 2 Generationen noch selbst im Bauernstand war. Durch den Verlust der Vaterfigur und den Haupternährer der Familie stürzt die Familie um Rudolf natürlich ebenso nicht nur in eine finanzielle Krise, sondern auch in eine emotionale. Die Haut wird dünner, die Stimmung gereizter. Und drumherum all diese Änderungen.

Die nervöse Zeit ist also nicht nur auf die Epoche zu Münzen, sondern auch auf unseren "Helden".
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Re: Eine nervöse Zeit: Information

Beitragvon almafan » Do 3. Feb 2022, 22:52

Ich fand es nicht nur wichtig, über das Land, in dem es stattfinden soll, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Mich interessierte auch, die Zeit in der unser Rudolf großgeworden ist und welche Umbrüche er miterlebt haben muss. Von einem bäuerlichen Agrarstaat zu einer der führenden Industrienationen binnen weniger Jahrzehnte. So rasant war der Wandel in Deutschland.

Auf dem YouTube-Kanal "Setzen, sechs" habe ich einen Re-Upload der 3-teiligen Dokumentationsreihe "Die Stählerne Zeit - Industrielle Revolution in Deutschland" entdeckt, die in 3 Doppelschicksalen vom Leben der Arbeiter und der neuen Herren, den Fabrikbesitzern, spricht. Jeweils ca. 35 Minuten lang, hat der Besitzer des Kanals (oder dessen Quelle) die 3 Videos zu einem etwa 1:40 Stunde langen Film zusammengefasst.

Autor und Regie ...... Anne Roerkohl, Rüdiger Moersdorf, Barbara Stupp
Regie .................. Roland May (Spielszenen)
Kamera ................ Norbert Bandel
Produktionsleitung .. Jörg Kunkel
Herstellungsleitung .. Andreas Knoblauch
Producer .............. Thomas Schuhbauer
Redaktion ............. Gudrun Wolter, WDR
Marie-Elisabeth Denzer, Vera Meyer-Matheis, SR
Drehorte .............. Nordrhein-Westfalen, Saarland, Berlin
Drehzeit .............. ab Oktober 2007
Auftraggeber ......... WDR, SR, SWR
Sendedatum .......... 01.05, 03.05. und 04.05.2009, NDR

Folge 1: Die Not der Weber
Folge 2: Das Reich des Stahlbarons
Folge 3: Der Stolz der Arbeiter

Die Videos sind hier in genau umgekehrter Reihenfolge zusammengelegt

Die Stählerne Zeit - Industrielle Revolution in Deutschland

Leider wird die Wiedergabe außerhalb von YouTube nicht gestattet.
Vermutlich weil der Uploader nicht Rechteinhaber der Inhalte ist.
Liegt zumindest nahe.

https://www.youtube.com/watch?v=SdvqR-YI7TM

Dann klaue ich mir eben meinerseits den Klappentext, der auch nicht seiner ist:

Vor gut 160 Jahren befindet sich Deutschland in einem radikalen Wandel, der das Leben der Menschen grundlegend verändert. Die industrielle Revolution macht aus beschaulichen Dörfern bizarre Fabriklandschaften mit qualmenden Schloten und Wohnsiedlungen für das Heer der Arbeiter, die in die wachsenden Städte strömen. Handwerksarbeit wird verdrängt durch Fabrikware, die schneller und billiger produziert werden kann und oft sogar hochwertiger ist als traditionelle Handarbeit.

Die Textilbranche durchlebt diesen Umbruch als erstes, die heimarbeitenden Weber arbeiten verzweifelt und vergeblich gegen die Spinn- und Webmaschinen der riesigen neuen Fabriken nach englischem Vorbild an.

Und die werden oft da errichtet, wo große Armut herrscht und die Menschen froh sind über jeden Verdienst. Für Abertausende von Arbeiterfamilien aber reicht der Lohn für die zermürbende Schufterei in Textilfabriken, in Minen und an Hochöfen anfangs nur knapp zum Überleben. Männer, aber auch Frauen und Kinder stehen oft 14 Stunden am Tag an lärmenden Maschinen, deren unerbittlicher Takt ihr Leben bestimmt. Doch was bleibt ihnen übrig, wenn sie für sich und ihre Familien das Brot verdienen müssen?

Ihre Arbeitskraft ist das Kapital der Industriebarone, die den industriellen Umbruch hierzulande begeistert unterstützen und mit ihrer Initiative und ihrem Geld vorantreiben. Ihre Produkte aus Eisen und Stahl und die Errungenschaften der Technik verändern das Land, die Eisenbahn verlangt eine einheitliche Uhrzeit, die Monumente der ersten Weltausstellungen sind Ausdruck des Fortschrittsglaubens dieser Zeit.

Textilfabrikanten, Stahlbarone und Zechenbesitzer bestimmen zunächst ziemlich ungestört und willkürlich die Regeln von Produktionsablauf, Arbeitszeit und Verdienst und regieren sogar ins Privatleben der von ihnen Abhängigen ein. Fügen müssen und sollen sich die Arbeiter. Doch die werden anfangen, für gerechten Lohn und verträgliche Arbeitsbedingungen zu kämpfen.

Es ist die Basis für eine neue politische Bewegung, und mit Streiks und Protesten demonstrieren die Arbeiter ihr neues Selbstverständnis. Betriebskrankenhäuser, Sozialkassen und Werkswohnungen verbessern ihre Lage, eine neue Freizeitkultur entsteht.

Am Ende ist aus dem zersplitterten Agrarstaat eine der wichtigsten Industrienationen der Welt geworden. Es wurden die Wurzeln für den Wohlstand geschaffen, von dem wir heute noch leben.

Ein unglaublicher Wandel, der bis heute Spuren hinterlassen hat.

Eine dreiteilige Dokumentationsreihe, die die Sorgen und Nöte, die Ängste und Hoffnungen einer Epoche des tiefgreifenden Wandels wieder aufleben lässt. Erzählt werden die Schicksale von sechs Menschen, die Briefe oder Tagebücher hinterlassen haben und deren Leben verbürgt ist.
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